IT-Talentmangel: Die Achillesferse der Digitalisierung

IT-TALENTMANGEL: DIE ACHILLESFERSE DER DIGITALISIERUNG

Teil 1: Auf dem deutschen Arbeitsmarkt fehlen Zehntausende IT-Talente

Wenn in Deutschland über die digitale Transformation gesprochen wird, dann meist aus einem strategischen Blickwinkel heraus. Technologien wie Big Data und Künstliche Intelligenz oder Schlagworte wie die Plattformökonomie sind in aller Munde. Es wird diskutiert, welche Produkte und Dienstleistungen entwickelt werden müssen, um international Schritt halten zu können. Zum Thema innovative Produktentwicklung hat mein paymentandbanking-Teamkollege André M. Bajorat kürzlich einen sehr guten Beitrag verfasst.

Immerhin: Eine aktuelle Bitkom-Studie zeigt, dass deutsche Konzerne dem digitalen Wandel und digitalen Innovationen heute deutlich aufgeschlossener gegenüberstehen als noch im letzten Jahr.

Das ist erfreulich. Wenn ich mir aber die Digitalstrategie großer Konzerne oder Banken ansehe, frage ich mich oft, ob da nicht der dritte Schritt vor dem ersten gesetzt wird. Denn als Gründerin und Geschäftsführerin eines Fintech-Unternehmen treibt mich im Alltag vor allem eine Frage um:

Woher sollen die Mitarbeiter kommen, die digitale Geschäftsmodelle und Produktentwicklungen in die Tat umsetzen?

Laut einer weiteren Bitkom-Studie sind in Deutschland derzeit 82.000 Stellen für IT-Experten unbesetzt. Im Schnitt vergehen fünf volle Monate, bis Unternehmen einen geeigneten Mitarbeiter gefunden haben.

Eine Deloitte-Studie bestätigt, dass der „Talent-Pool an verfügbaren IT-Experten“ in Deutschland deutlich unter dem vieler anderer OECD-Staaten liegt. Ihr Anteil an allen Beschäftigten liegt bei 0,7 Prozent – das ist gerade mal Platz 20 unter allen teilnehmenden Ländern. Bei den Datenspezialisten sieht es etwas rosiger aus, aber auch hier ist der Abstand zur Spitzengruppe (Niederlande, USA) sehr groß.

Das hat verschiedene Gründe, von denen ich hier einige aufzählen möchte:

In Politik und Wirtschaft:

  • Deutschland ist traditionell stark in Industrien wie dem Maschinenbau und der Landwirtschaft. Verwöhnt vom Erfolg der letzten Jahrzehnte, haben wir zu viel Zeit damit verbracht, unser Kern-Know-How weiterzuentwickeln und bis zu einem gewissen Grad die Augen vor der Digitalisierung verschlossen. Ein entsprechend geringer Fokus lag auf der Wertschätzung, Ausbildung und Pflege von IT-Talenten.

IT-Fachkräfte haben, gemessen an den traditionellen Industrien, keine starke Lobby. Die zig digitalen Berufsfelder sind in der Öffentlichkeit weitestgehend unbekannt. Wer außer Eingeweihten weiß schon, dass man sein Geld als Java-, Python- und SAP-Entwickler, Experte für Qualitätssicherung, für IT-Security, Big Data oder Machine Learning, IT-Projektmanager, Product Owner oder UX Designer verdienen kann?

IT-TALENTMANGEL: DIE ACHILLESFERSE DER DIGITALISIERUNG
  • Die Schulbildung ist unzureichend: Meine 14jährige Tochter hat eine Stunde IT-Unterricht pro Woche. Das deckt eine zeitgemäße digitale Bildung nicht annähernd ab. Gerade Mädchen und Frauen werden nach wie vor viel zu wenig für digitale Berufe und Ausbildungswege begeistert, obwohl sie gerade in den neuen Berufsfeldern gute Einstiegs- und Aufstiegschancen haben.

In den Unternehmen:

  • Altmodische Prozesse und Strukturen: Um in der digitalen Welt bestehen zu können, ist Schnelligkeit das oberste Gebot. Zu viele Unternehmen halten noch immer an traditionellen Prozessen fest und es dauert ewig, bis Produkte oder Dienstleistungen alle Hierarchieebenen durchlaufen und im Sinne des „kleinsten gemeinsamen Nenners“ abgesegnet wurden. Nicht umsonst versuchen sich immer mehr Konzerne am teamübergreifenden, „agilen Arbeiten“, die einen mehr, die anderen weniger erfolgreich.
  • Dazu gehört auch die passende Fehlerkultur: Um schnell zu sein, müssen Konzerne und Banken Risiken eingehen und Mut zur Lücke aufbringen. Das N26-Bashing der letzten Monate zeigt, wie wenig fehlertolerant die traditionelle Finanzbranche ist, wie sehr sich ihr Mindset ändern muss. Wenn IT-Mitarbeiter keine Fehler machen dürfen, frustriert das und widerspricht dem Anspruch, agil und innovativ zu sein.
  • Aufgabenbereiche und Jobprofile: Viel zu oft noch sind digitale Talente in deutschen Unternehmen das „IT-Mädchen für alles“ und werden als eine Art akademischer Sondermüll betrachtet, von dem man nicht so recht weiß, wohin damit. Jobprofile, Aufgabenbereiche und Ziele sind ungenau definiert.
IT-TALENTMANGEL: DIE ACHILLESFERSE DER DIGITALISIERUNG

Mangelnde Anreize: Digitale Talente auf der ganzen Welt können sich heute aussuchen, wie und wo sie arbeiten möchten. Um genügend Mitarbeiter zu finden, müssen Unternehmen eine überzeugende Story, ein gutes Gehalt, gute Bewertungen auf Mitarbeiter-Portalen und eine gewisse Weltläufigkeit vorweisen. Insbesondere geeignete Mitarbeiter aus dem Ausland werden häufig abgeschreckt durch hohe Steuern, starke Regulierung und mangelnde Englischkenntnisse. Schon wir in Berlin haben Probleme, genügend geeignete Mitarbeiter zu finden – wie wird es dann dem „Hidden Champion“ im Schwarzwald gehen?  

 

  • Das Management hat keine Ahnung, oder wie es mein paymentandbanking-Teamkollege Jochen Siegert so schön sagt: „Der Fisch stinkt vom Kopf“. In einem Tweet sagt der US-amerikanische Techexperte Chris Skinner: „94 Prozent der Bankenmanager haben in ihrem Berufsleben noch keinerlei technische Erfahrungen gesammelt. Wie sollen sie eine digitale Vision erschaffen können?“. Die eingangs genannte Bitkom-Studie lässt wissen, dass im Jahr 2019 gerade einmal 15 Prozent der befragten Unternehmen einen Digital-Verantwortlichen wie einen Chief Digital Officer (CDO) oder Leiter Digitalisierung eingesetzt haben. Wie kann ein Unternehmenslenker oder Personalchef, der sich mit IT nicht auskennt, die richtigen Mitarbeiter einstellen?

Viele Top-Talente, die in Deutschland ausgebildet wurden, entscheiden sich daher für Jobs in der Schweiz, in England oder in den USA. Während immer mehr Unternehmen die „User Experience“, also die Wünsche des Kunden, in den Fokus rücken, scheint es mit der „Mitarbeiter-Experience“ noch nicht weit her zu sein.

Die Folgen des Talentmangels sind für Großkonzerne und Banken schon heute dramatisch. 48% der von Bitkom befragten Unternehmen nennen „fehlende Fachkräfte“ als eine der größten Hürden für den Einsatz neuer Technologien. Gleichzeitig geben 60 Prozent der Unternehmen an, dass durch die Digitalisierung branchenfremde Unternehmen plötzlich zu direkten Wettbewerbern geworden sind.

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Um den Wandel zum Technologieunternehmen zu schaffen und nicht noch mehr Marktanteile zu verlieren, müssen in Konzernen und Banken dringend mehr Anreize für IT-Talente und den Nachwuchs geschaffen werden. Denn ohne die richtigen Mitarbeiter verpufft die beste Strategie in der Luft.

Coming soon: Teil 2: Aus dem Leben einer HR-Managerin (oder so ähnlich)

Autor

  • Miriam Wohlfarth ist Unternehmerin, Aufsichtsrätin und Beirätin. 2009 hat sie das Payment Unternehmen Ratepay gegründet und war dort bis zum Okt 2021 Geschäftsführerin. 2020 hat sie das Fintech Banxware mitgegründet und ist dort Co-CEO und GF. Seit 2016 ist Miriam Gesellschafterin bei Payment & Banking. Sie ist außerdem Aufsichtsrätin bei Daimler Mobility AG, Freenet AG und talentsconnect AG. Weiterhin engagiert sie sich ehrenamtlich als Mitglied im Digital Finance Forum de Bundesfinanzministeriums, als Gesellschafterin bei Startup Teens e.V., als Beirätin der Programmierschule School 42 und im Kuratoriums Vorsitz des Bundesverband Deutsche Startups.

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