Ein Gastbeitrag von Theresa Bihn und Tom Dapp aus dem Digital Office der KfW
Der digitale Strukturwandel offenbart u.a. zwei ökonomische Treiber, die sich schon heute grundlegend auf traditionelle Wertschöpfungsprozesse auswirken. Neben der Ökosystemisierung, also der Herausbildung von digitalen Plattformen, die sich an ihren jeweiligen Programmierschnittstellen vernetzen, entfaltet auch die Entmaterialisierung (Tokenisierung) von Vermögenswerten allmählich ihr wirtschaftliches Effizienzpotential. Beide Bewegungen verschmelzen zunehmend in neuen Geschäftsideen und stellen Unternehmen mit traditionellen Organisationsformen und veralteten Strategien vor enorme Herausforderungen. Um auf die daraus resultierenden Marktveränderungen mit resilienten Strategien zu (re)agieren, braucht es Mut für Veränderungen, braucht es Mut für Reflektion.
Komplexe Herausforderungen des digitalen Strukturwandels
Die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts haben gerade begonnen und der digitale Strukturwandel rüttelt nach wie vor unumkehrbar an den Grundfesten traditioneller Unternehmen. Unabhängig von der Branchenzugehörigkeit kann die Bedeutung des digitalen Wandels für die Wirtschaft, aber auch für Politik und Gesellschaft kaum überschätzt werden. Denn der technologische Fortschritt und die damit einhergehenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungsprozesse sind grundlegend.
Gerade auch die Covid-19-Pandemie zeigt deutlich, wie wichtig es ist, digitale Werkzeuge, sowie Technologien gepaart mit modernen Methoden einzusetzen, um auch während globaler Krisen weiterhin handlungs- und wettbewerbsfähig zu sein.
Basierend auf diesen veränderungswirksamen Kräften des digitalen Strukturwandels, haben sich in der letzten Dekade u.a. zwei strukturelle, ökonomische Bewegungen im marktlichen Umfeld durchgesetzt und sich vielerorts in erfolgreichen Geschäftsmodellen manifestiert: Einerseits findet eine unauffällige und eher schleichende Entmaterialisierung von Vermögenswerten (digital assets) statt, die z.B. Distributed Ledger-basierte Transaktionen von und für PrivatanlegerInnen, aber auch von und für institutionelle InvestorenInnen abbild-, verwahr- und handelbar machen – die sogenannte Token Economy.
Andererseits lässt sich die anhaltende Erfolgsgeschichte der Ökosystemisierung von branchenübergreifenden, aber komplementären Geschäftsmodellen beobachten, harmonisch verzahnt auf plattformbasierten Unternehmensarchitekturen – die sogenannte API Economy. Beide Bewegungen stimulieren sich gegenseitig. Sie konvergieren zunehmend in digitalen Geschäftsmodellen und bestimmen den Kurs künftiger, globaler Wertschöpfungsnetze. Beide Bewegungen treffen allerdings nicht selten auf traditionelle Unternehmenskulturen mit tradierten Geschäftsmodellen, kaum modernisierten (meist silohaften) Organisationsstrukturen und tendenziell überforderten EntscheidungsträgerInnen. Das zwingt viele klassische Akteure aus ihren Komfortzonen heraus, bietet aber zugleich die Chance, sich mit ausgeklügelten Strategien im Wettbewerb nicht mehr nur als Follower, sondern auch wieder als Innovator zu positionieren.
Kaum entfaltete Potentiale der Token Economy
Die jüngere technologiegetriebene Bewegung ist die Digitalisierung bzw. Entmaterialisierung von Vermögenswerten oder Rechten im Allgemeinen, die auf verteilten Datenbank-Systemen mit verschwindend geringen Transaktionskosten abgebildet werden können.
Die Relevanz der Tokenisierung ist darin begründet, dass Informationen über Distributed Ledger-Technologien digital so abgebildet werden, dass sie weder kopier- noch manipulierbar sind und mittels mathematischer Verfahren (Verschlüsselungstechnik, Kryptographie) sicher zwischen Akteuren übertragen werden können. Token sind heute bereits ohne klassische Finanzintermediäre handelbar.
Immer mehr Unternehmen bieten daher basierend auf Blockchain-Systemen diverse Dienste wie digitale Brieftaschen (Wallets), Verwahrdienstleistungen, vollautomatisierte Rechtsverträge (Smart Contracts) oder Börsen für den Handel mit Kryptowährungen an (z.B. Ether oder Libra). Token können dazu verwendet werden, um Unternehmens- oder Projektfinanzierungen durchzuführen (Initial Coin Offerings (ICO) oder Security Token Offerings (STO)).
Token werden künftig aber auch das notwendige Vehikel sein, um das Potential des „Internet der Dinge“ weiter entfalten zu können. Wenn künftig mehr Maschinen miteinander und mit dem Internet verbunden sind, braucht es adäquate Interaktionsmöglichkeiten, damit diese vernetzten Maschinen miteinander kommunizieren, Transaktionen empfangen oder auslösen können. Das aktuelle geldpolitische System bietet ohne die Entmaterialisierung von Geld bzw. Währungen (noch) keine adäquaten Optionen, dass beispielsweise ein autonom fahrendes Auto Empfänger oder Versender von Finanztransaktionen sein kann. Hierfür wird digitales bzw. programmierbares Geld notwendig.
Der anhaltende Erfolg der API Economy
Gerade für Unternehmen mit traditionellen Geschäftsmodellen sind die Auswirkungen der zweiten Bewegung, der sogenannten Ökosystemisierung, bereits schmerzhaft spürbar. Sie sehen sich im Wettbewerb mit zunehmend erfolgreich agierenden, digitalen Plattformarchitekturen konfrontiert. Die Erfolgsgeschichte der noch jungen, aber schnell wachsenden API Economy lässt sich an ausgeklügelten Monetarisierungsstrategien (Walled Garden [1]) beobachten: Unter Verwendung kompatibler und offener Technologiestandards, einem Umdenken in der Datenverwendung und der strategischen Nutzung von Skalen-, Netzwerk- und Lock-In-Effekten werden relativ loyalen Kunden diverse Bündel von komplementär vernetzten, digitalen Produkten und Diensten bequem, vor allem aber „alles-aus-einer-Hand“, angeboten.
Über sogenannten Programmierschnittstellen (APIs) sind auf technologiegetriebenen Plattformen strategische Allianzen möglich, welche die Attraktivität ihrer Unternehmensleistungen permanent erhöhen. Durch horizontale Kollaborationen werden Synergien hinsichtlich Größe, Reichweite, Kunden, Daten sowie Integrationsmöglichkeiten erreicht. Die horizontale Kollaboration zwischen einer digitalen Plattform und einer traditionellen Geschäftsbank zeigt jüngst, wie weit die Ökosystemisierung bereits fortgeschritten ist.
„Die horizontale Kollaboration zwischen einer digitalen Plattform und einer traditionellen Geschäftsbank zeigt jüngst, wie weit die Ökosystemisierung bereits fortgeschritten ist.“
Unternehmen brauchen jetzt resiliente und konsequente Visionen für das digitale Zeitalter
Angesichts dieser beiden Treiber, also der zunehmend plattformbasierten und in Teilen entmaterialisierten Wertschöpfungsnetze, gilt für traditionelle Player im Markt mehr denn je: Sich neu zu erfinden, technologisches Knowhow aufzubauen, und das eigene Geschäftsmodell sowie die eigene Organisationsstruktur mit all seinen interdependenten Facetten ernsthaft auf den Prüfstand zu stellen. EntscheidungsträgerInnen müssen das jetzt mit höchster Priorität in den Fokus jeder strategischen Agenda rücken und eine Vision für ihr Unternehmen entwickeln. Das ist ressourcen- und zeitintensiv und darf nicht nur in Hochglanzbroschüren als zwingend notwendiger „Kulturwandel“ angepriesen sein, sondern muss zeitnah entwickelt und konsequent umgesetzt werden.
Die Balance zwischen Effizienz und Anpassungsfähigkeit erfordert ein konsequentes Umdenken
Viele Unternehmen stehen vor der Herausforderung ihre Geschäftsmodelle an das digitale Zeitalter anzupassen. Insbesondere die großen Player am Markt, die in der Vergangenheit vor allem durch Effizienzsteigerung ihre Vorreiterrolle festigten und so beachtliche Unternehmensgrößen und Umsatzzahlen aufbauen konnten, müssen ihre Geschäftsmodelle hinterfragen. Die neue (digitale) Konkurrenz greift allerdings nicht mehr in einem linear verlaufenden, vorhersehbaren Marktumfeld an, sondern disruptiert unser bisheriges Marktverständnis und sorgt dadurch für volatile, unsichere, komplexe und mehrdeutige Marktbedingungen (VUCA [2]). Es reicht nicht mehr aus, nur effizient zu sein, sondern ein Unternehmen muss auch anpassungsfähig reagieren können, wenn sich Märkte durch neue Akteure grundlegend und in sich beschleunigender Geschwindigkeit verändern. Die Verfolgung dieser zwei scheinbar gegensätzlichen Ziele (Effizienz und Anpassungsfähigkeit) wird Ambidextrie genannt und erlaubt Unternehmen, kurzfristige Leistung sowie langfristigen Erfolg zur gleichen Zeit zu sichern.
Alte Denkmuster abbauen
Paradoxerweise reagieren tradierte Unternehmen auf die digitale Disruption mit alten Denkmustern und Verhaltensweisen und versuchen schnell wieder Stabilität und Kontrolle zu erlangen. Das ist aber ein Trugschluss, denn schon Albert Einstein wusste: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“
Zielführender hingegen sind der Aufbau von Flexibilität, Resilienz und ein nachhaltiges Umdenken im Umgang mit Unsicherheiten. Das bedeutet, dass sich das Denkmuster der Unternehmensführung grundlegend verändern muss, damit sich auch in der Organisation etwas ändern kann. Notwendige Innovationen oder agile Vorgehensweisen können nicht durch traditionelle Top-down-Strategien in Auftrag gegeben werden.
Wer, wann und wo, welche Innovationen lostritt, lässt sich weder voraussagen noch am Reißbrett im Detail entwerfen, geschweige denn wunschgemäß steuern. Am Ende führen Zufälle, Trial-and-Error sowie Missverständnisse zu neuen Ideen und Lösungen. Das bedeutet aber auch, dass EntscheidungsträgerInnen ihre eigenen Einstellungen hinterfragen und die gewünschten innovativen und agilen Werte und Prinzipien konsequent vorleben müssen. Ansonsten passiert das, was sich aktuell branchenweit in vielen großen Unternehmen beobachten lässt: frustrierte MitarbeiterInnen, die sich beim Versuch aufreiben, Selbstorganisation, Innovation und Agilität bei gleichbleibender Kultur und veralteten Strukturen zu leben. Häufig führen diese halbherzigen Veränderungsversuche zu Frust, erhöhter Fluktuation und letztendlich zu Leistungseinbußen, statt, wie geplant, zu mehr Flexibilität und einer gestärkten Innovationsfähigkeit.
Abenteuer statt Pauschalreise
Traditionelle Unternehmen können im Wettbewerb auf VUCA-Märkten gegenüber disruptiven Kräften durchaus erfolgreich bestehen, wenn sie die Verfolgung der gegensätzlichen Ziele Effizienz und Anpassungsfähigkeit beherrschen lernen. Hierbei können sie auf ihre etablierten, effizienten Strukturen zurückgreifen und die Anpassungsfähigkeit durch konsequentes Vorleben von Innovation und Agilität erlangen. Allerdings muss das gesamte Unternehmen seine Komfortzone verlassen und die Unternehmensführung kann das nicht an die MitarbeiterInnen delegieren. Dieser Wandel ist eine Reise, die eher einem Abenteuer statt einer Pauschalreise ähnelt, und verlangt Mut, Zuversicht sowie einen starken Umsetzungswillen.
Fußnoten:
[1] Walled Garden ist eine Bezeichnung für ein Technologiekonzept, das eine eingegrenzte Unternehmens-Umgebung beschreibt. Das Konzept steht für ein Geschäftsmodell, bei dem der Hersteller über exklusive Vertriebsmodelle die Kontrolle über angebotene Software, mobile Endgeräte (allgemein Hardware) und Inhalte behalten möchte, die nur einem bestimmten Kundenkreis zugänglich sind.
[2] VUCA ist ein Akronym für die englischen Begriffe volatility (Volatilität), uncertainty (Unsicherheit), complexity (Komplexität) und ambiguity (Mehrdeutigkeit). Es beschreibt schwierige Rahmenbedingungen der Unternehmensführung.