Auf 4,8 Millionen wird einer Studie der ING zufolge allein das Potenzial der Neukunden aus der Altersgruppe zwischen 55 und 64 Jahren beziffert. Zählt man die Folgekohorte der Menschen zwischen 65 und 74 Jahren hinzu, bringt es die Generation 55plus auf 8,8 Millionen möglicher Neukunden. Warum wird sich um diese Zielgruppe dennoch so wenig gekümmert?
Junge Menschen schauen auf ihr Smartphone und erledigen mit einem Swish nicht nur Überweisungen, sondern auch Altersvorsorge und Vermögensaufbau. Das lässt die Aktienkultur in Deutschland in zartem Hoffnungsgrün strahlen. Immerhin haben inzwischen 1,5 Millionen Menschen unter 30 Aktien oder entsprechend ausgerichtete Fonds, protokolliert das Deutsche Aktieninstitut (DAI). 2017 waren es nur knapp über 900.000.
Aktien sind die Basis des langfristigen Vermögensaufbaus, steht in jedem Anlagelehrbuch. Gut also, wenn der Zugang dazu mit cleveren Tools so einfach wie möglich gemacht wird. Doch was ist mit den Menschen, die keine „Digital Natives“ sind? Was ist also mit Menschen über 55, um eine möglicherweise willkürliche Altersgrenze zu ziehen?
Digitalisierung macht älteren Menschen zu schaffen
Ein paar Zahlen: Tatsächlich sind unter den jungen Menschen im Alter zwischen 18 und 29 Jahren die Smartphones der selbstverständliche Schlüssel auch fürs Banking. Beispiel Payment: Gut ein Fünftel dieser Gruppe zahlt bereits mit dem Handy. Bei Menschen über 50 überwiegt dagegen die Skepsis.
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Beim Sozialverband VdK macht man eine ähnliche Beobachtung: „Viele unserer älteren Mitglieder macht die zunehmende Digitalisierung von alltäglichen Erledigungen wie Bankgeschäfte oder der Kontakt zu Energieversorgern und anderen Dienstleistern zu schaffen“, sagt VdK-Präsidentin Verena Bentele. „Die zunehmende Digitalisierung lässt aber nicht nur einen Teil der Seniorinnen und Senioren außen vor. Auch ärmeren Menschen fehlt es an digitaler Teilhabe.“ Und die ist bitter nötig. Immerhin gilt für Jung wie Ältere: Private Vorsorge tut Not.
Von wegen 55+ = reiche Boomer
Julia Schabert von Heimkapital weiß: „Paradoxerweise gehen mehr als 40 Prozent der
Immobilienbesitzer ab 65 Jahren mit weniger als 20.000 Euro Sparguthaben in Rente, wie eine Forsa-Studie in unserem Auftrag ergeben hat.“ Für sie ist klar, dass Fintechs wie beispielsweise Heimkapital dem Missstand abhelfen können. Immerhin kauft das Unternehmen Teile von Immobilien – bis zu 50 Prozent. Der Bewohner kann damit sein Haus weiterhin nutzen, erhält aber eine Sofortauszahlung.
Auch in anderen Unternehmen ist man optimistisch: Zwar könnten die digitalen Services der Fintechs, wie zum Beispiel Trade Republic, N26, Scalable Capital auch von der 55plus-Generation genutzt werden, sagt Cornelia Schwertner, Founder & CEO von Brygge. Sie selbst beschreibt ihr Unternehmen als „individuelle Lesebrille für den entspannten Umgang mit Finanzfragen in der zweiten Lebenshälfte“. Ihr Befund: „Die Generation 55plus fragt definitiv auch digitale Lösungen nach. Allerdings sind bekanntlich nicht alle in dieser Altersklasse, die von 55 bis beispielsweise 90 Jahre und darüber reichen kann, `digital natives`.“
Keine Frage der Größenordnung
Wie groß die mögliche Kundengruppe der Generation 55plus mit Blick auf digitales Banking & Co. ist, zeigt eine Erhebung der ING. Auf 4,8 Millionen beziffert man beim Bankhaus allein das Potenzial der Neukunden aus der Altersgruppe zwischen 55 und 64 Jahren. Zählt man die Folgekohorte der Menschen zwischen 65 und 74 Jahren hinzu, bringt es die Generation 55plus auf 8,8 Millionen möglicher Neukunden.
Für die ING ist daher klar: „Wir wollen unsere Produkte und Services einer möglichst großen Zahl von Menschen zugänglich machen“, sagt Christiane Fritsch, Leiterin Digital Leadership der ING Deutschland. „Daher legen wir großen Wert auf Einfachheit und Verständlichkeit. Als Digitalbank nehmen wir dabei unsere App ‚Banking to go‘, unsere Webseite und unser Internetbanking in den Fokus. Durch eine einfache Sprache, intuitive Bedienung und unkomplizierte Prozesse für etwa Anmeldung oder Freigabe wollen wir es Kundinnen und Kunden einfach machen, ihre Bankgeschäfte digital zu tätigen – und das egal in welchem Alter. Ebenso arbeiten wir daran, unsere Kanäle barrierefrei zu gestalten, damit auch Kunden und Kundinnen mit etwa einer altersbedingten Sehschwäche unser digitales Banking problemlos nutzen können.“
Auch bei Fintechs wie etwa Scalable hat man diese Kundengruppe ins Visier genommen. „Die Altersgruppe 55plus machen um die 20 Prozent unserer Kundinnen und Kunden aus“, sagt Ina Froehner. „Von ihnen wird insbesondere unser Vermögensverwalter Scalable Wealth gut angenommen. Aber auch der Broker wird von dieser Gruppe genutzt.“ Wie diese Kundengruppe ansprechen? Für Scalable ist klar: „Maßnahmen, die sich auch an ältere Kunden und Kundinnen richten, sind Events, Webinare sowie persönliche Kundengespräche. Zudem spielen wir Werbung über klassische Medien, wie Fernsehwerbung oder Printanzeigen in Zeitschriften und Zeitungen aus. Durch unsere Produkte bieten wir ein niederschwelliges und unkompliziertes Angebot an, das auch in vollem Umfang über eine Desktop-Version verfügbar ist.“
Trotzdem bleibt das Buhlen um 55plus keine einfache Aufgabe. „Es sind hybride Vertriebsprozesse notwendig, um das gesamte Kundenspektrum und damit Marktpotenzial bedienen zu können – so wie wir das mit unserem Angebot, dem Immobilien-Teilverkauf, anbieten“, sagt Schabert von Heimkapital. „Wir legen großen Wert auf digitale, schnelle und transparente Prozesse vom ersten Kundenkontakt bis zum Abschluss einer Transaktion.“
Fintechs für alle?
Ü55 und Fintech, das passt daher zusammen, findet Schwertner von Brygge. Voraussetzung: Den Begriff Fintech behutsam nutzen: „FinTech ist nicht FinTech“, sagt sie. „Brygge definiert sich auch als Fintech, aber wir achten eben darauf, dass unsere technischen Lösungen menschliche Komponenten haben. Sei es über die Sprache, die Austauschformate mit Kunden oder das Geschäftsmodell als solches. Ein Fintech mit Social Impact wie Brygge kann die bisherigen Grenzen daher sprengen.“
Auch beim VdK ist man weit davon entfernt, Fintechs zu verdammen. Doch einen Vorbehalt gibt es: „Wir fordern, dass Banken und andere Dienstleister mindestens zwei Kommunikationskanäle bereitstellen. Diese sollten allerdings nicht nur angeboten werden, sondern auch tatsächlich nutzbar sein. Eine Telefon-Hotline mit 45 Minuten Wartezeit, die dann durch einen Voice-Bot betrieben wird, ist keine adäquate Alternative. Banken müssen bei ihrer Kundenbindung beachten, dass für die angesprochene Generation, aber auch viele andere Menschen, der persönliche Kontakt nicht zu ersetzen ist.
Nicht nur das Alter schließt Teilhabe aus
Bleibt die Frage, ob dieses Problem langfristig entfällt – einfach, weil alle künftigen Generationen digital geprägt aufwachsen. Nein, heißt es vom VdK: „Einerseits führt die bereits angesprochene Armutsbarriere dazu, dass noch immer Menschen vom technologischen Fortschritt ausgeschlossen werden. Online-Banking mit einer pushTan-App funktioniert nicht auf gebrauchten Smartphones mit veralteten Betriebssystemen. Zusätzlich dazu gibt es viele Menschen, die im Rahmen ihres Erwerbslebens nicht oder nur begrenzt mit digitalen Endgeräten in Kontakt kommen. Wenn diese ihre digitalen Kompetenzen nicht selbstständig erwerben, sind auch sie benachteiligt.“
Das bedeutet unter dem Strich: Das Sterben der Bankfilialen dürfte unumkehrbar bleiben, Fintechs versuchen die sich öffnende Beratungslücke zu füllen. Damit kommen Generation Z & Co. naturgemäß besser zurande als die Generation 55plus. Allerdings liegt es im Interesse von Fintechs, diese Zielgruppe nicht links liegenzulassen.
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