Der weltbekannte Song „Wind of Change“ der Band Skorpions hat 1990 das Ende des kalten Kriegs intoniert und uns allen das Gefühl einer „Wende zum Guten“ mit unseren russischen Nachbarn vermittelt. Seit dem 24. Februar sind wir schlagartig eines Besseren belehrt und seit dem 27. April wissen wir es durch unseren Bundeskanzler amtlich, dass wir uns in einer „Zeitenwende“ befinden.
Seither greift das Wort „Wende“ nahezu inflationär um sich. Um selbige in der kriegsverwundeten europäischen Wirtschaft wirksam zu bekämpfen, kündigt Frau Lagarde per Blog am 23. Mai eine „Zinswende“ an. Welche Konsequenzen all diese „Wenden“ für uns haben werden, ist kaum absehbar. Während die proklamierte „Zeitenwende“ des Bundeskanzlers aufgrund der zeitinteniven Suche nach Lösungen zur Substituierung fossiler russischer Brennstoffe und der „Lieferkettenprobleme“ für schwere Waffen plus Munition zeitlich eher vage bleibt, hat sich Frau Lagarde mit ihrer Zinswende präzise auf Juli festgelegt, um damit der galoppierenden Inflation etwas entgegenzusetzen. Und mitten in diesen „Wendezeiten“ befindet sich auch die Startup- und Fintech-Szene und muss nun (re-)agieren auf das, was sich da zusammenbraut…
Zeitenwende auch bei Fintechs?
Wer die Szene etwas intensiver verfolgt, ist in den letzten Tagen und Wochen immer öfter auf „Warnings“ von Analysten und/oder aus der Venture Capital Szene gestoßen, die im Tenor auf eine „Stimmungswende“ hindeuten, die logischerweise Konsequenzen für die Strategien und Geschäftsmodelle von VC-backed Unternehmen haben wird. Der Galionsfond im Venture Capital, Sequoia, präsentierte seinen Portfoliounternehmen am 16. Mai eine 52-seitige Präsentation unter dem Titel „Adapting to Endure“, in der von sogenannten „crucible moments“ gesprochen wurde. Die Message an die Gründer ist eindeutig: jetzt ist die Zeit für notwendige Anpassungen, wenn ihr weiter im Markt bestehen wollt.
Die Zeiten, in denen Geld nichts kostete, sind offensichtlich vorbei. Fundraising wird schwieriger und Bewertungen, die in den letzten 12 Monaten möglich waren, können heute unter Druck kommen. Dass diese Präsentation in den letzten Tagen in der Gründerszene viral ging, ist von Sequoia sicherlich auch so gewollt.
Denn eigentlich stehen in der Unterlage für den kundigen Leser keine wirklich neuen Erkenntnisse, außer dass sie logisch aufbereitet und gut illustriert sind.
Da sich auch Journalisten fleißig dieser Unterlage bedienen, konnten wir zuletzt in dem ein oder anderen Medium Artikel lesen. Sie setzten sich mit der Frage auseinander, wie sich die Bewertungen deutscher „Einhörner“ in den nächsten Wochen womöglich entwickeln könnten.
Geschäftsmodelle und Expansionspläne in der Zeitenwende anpassen
Begriffe wie „Flat Rounds“ oder „Down Rounds“ machten dabei die Runde. Dass es bei Startups solche Szenarien gab und gibt, hat nicht unbedingt etwas mit der aktuellen „Zeitenwende“ zu tun, sondern war schon immer Teil des unternehmerischen Risikos. Allerdings muss man konstatieren, dass die aktuellen wirtschaftlichen und politischen Ereignisse die Lage für Startups nochmals deutlich komplexer machen. Unicorns, die sich noch vor einem Jahr über höchste Pre-Money Bewertungen und Fundings von mehreren hundert Millionen Dollar/Euro erfreuten wie z.B. Klarna oder Revolut, sind jetzt gut beraten, ihre Geschäftsmodelle und Expansionspläne vor dem Hintergrund der eigenen Runrate – also dem Zeitraum, für den das Funding ausreicht – und der neuen Marktsituation zu überdenken und Anpassungen vorzunehmen.
Klarna, eines der bekanntesten Fintech-Unicorns, schaffte es mit der Ankündigung, 10 % der Mitarbeiter zu entlassen, vor wenigen Tagen in alle Schlagzeilen. Die im Juni 2021 durchgeführte Fundingrunde von über 600 Millionen Dollar führte bei dem „Buy Now-Pay Later“-Spezialisten zu einer Bewertung von über 45 Milliarden Dollar. In diesem konkreten Fall spielte bei den Investoren der Ausblick auf einen zeitnahen Börsengangs, der Hype um „BNPL“ sowie das Covid-getriebene Wachstum im eCommerce sicherlich eine große Rolle bei der Bewertung.
Keine falschen Schlussfolgerungen ziehen
Nachdem das Funding aus dem letzten Jahr offenbar schon recht erschöpft sein dürfte, ist das Timing für eine neue Fundingrunde derzeit nicht gerade optimal. Ob man dieses Vorgehen nun „Tritt auf die Kostenbremse“ oder wie beim Krypto-Fintech Nuri als „Kehrtwende von Wachstum zu Profitabilität“ bezeichnet, sollte jedoch nicht zu der Schlussfolgerung führen, dass man nun insgesamt die Geschäftsmodelle oder das strategische Potenzial von Klarna & Co. infrage stellt. Auch sollte man keinesfalls den Fehler begehen, diese Situation und Konstellation unisono bei allen anderen Fintechs – unabhängig von der Größe – zu unterstellen.
Man sollte sich vielleicht eher die Frage stellen, warum eine so große Venture Capital Firma wie Sequoia eine solche „interne“ Unterlage so bereitwillig leakt? Ist es der Wunsch, der gesamten Branche im Zeichen der Zeitenwende etwas Gutes zu tun, sie zu „educaten“? Oder will man mit einer gut aufbereiteten Sammlung von allgemein verfügbaren Informationen und Binsenweisheiten nur einfach ein paar Reflexionsprozesse bei den zahlreichen Gründerteams in Gang setzen? Wahrscheinlich ist es ein Mix aus allem… Und es kann nicht schaden, wenn den Gründerteams der vielen jüngeren Startups Hinweise gegeben werden, die eigene Geschäftsidee und deren Umsetzung nochmals zu hinterfragen.
Situation im Detail bewerten
Bei den Fintech-Grown-ups ist die Situation meines Erachtens eine andere. Unicorn-Unternehmen haben in der Regel bewiesen, dass sich ihr Geschäftsmodelle im Markt fest etabliert haben und die grundlegende Positionierung die richtige ist. Die Akzeptanz nach rein digitalen und damit oftmals kostengünstigeren Dienstleistungen, wird in Krisenzeiten eher noch zunehmen. Die Bürger:innen schauen jetzt noch viel genauer auf ihre Ausgaben und werden sich fragen, ob die Gebührenmodelle für Finanzdienstleistungen wirklich fair sind oder ob nicht doch mal ein Dienstleisterwechsel an der Zeit sein könnte.
Je nach Fundinglage drängen bei den Grown-ups jetzt mehr Fragen in den Vordergrund. Wie können Wachstum, operative Resilienz und das Streben nach Profitabilität vor dem Hintergrund der Zeitenwende schneller in Einklang gebracht werden? Ein Vorteil, den diese größeren Unternehmen gegenüber den jüngeren Startups haben ist u.a., dass die ehemaligen jungen Gründer sich zwischenzeitlich erfahrene Unternehmer oder Manager an Bord geholt haben. Diese haben solche Transformationsprozesse nicht zum ersten Mal in ihrem Berufsleben gestaltet und durchgemacht.
Speed to change statt speed to growth
Deshalb steht zu erwarten, dass wir in den kommenden Wochen in der Fintech-Szene noch einige spannende Entwicklungen werden beobachten können. Das kann von Entlassungen bis hin zu Unternehmenszusammenschlüssen oder Übernahmen alles sein. Und wer sich in einer solchen Marktlage als Konsolidierer positionieren und strategisch sinnvolle Akquisitionen tätigen kann, wird nicht nur Zugang zu top Talenten bekommen, sondern vielleicht auch eigene Produktentwicklungen, die auf der grünen Wiese umgesetzt werden, durch Aufkäufe forcieren können. Nach speed to market oder speed to growth bekommt jetzt speed to change den Vorrang. Und dieser kann bei der nächsten Fundingrunde wertstabilisierende oder sogar wertsteigernde Effekte haben.
Und damit bewahrheitet sich dann tatsächlich ein Zitat, welches in der Sequoia-Unterlage (fälschlicherweise) Charles Darwin zugeschrieben wird: „It is not the strongest of the species that survive, nor the most intelligent, but the one most responsive to change“.