20 Prozent der Bevölkerung sind neurodivergent. Doch die Finanzbranche ignoriert das. Warum das nicht nur veraltet, sondern auch teuer ist, und wie neuroinklusive Praktiken die Branche revolutionieren könnten: eine Kolumne. 

Diese Kolumne haben drei „neurospicy”-Personen geschrieben. Neurospicy? Das ist ein umgangssprachlicher Begriff, der auf humorvolle Weise beschreibt, dass jemand ein neurodivergentes Gehirn hat. In diesem Fall sind das vor allem Dila und Florian, die diese Kolumne geschrieben haben und ich – von der ihr schon wisst, wie die Finanzbranche fleißig ihre Voreingenommenheit pflegt und Mitarbeitende oder Kund*innen benachteiligt, die Frauen sind oder alt oder queer sind oder die „falsche Postleitzahl” haben…und natürlich ist das nicht die Spitze des Diskriminierungs-Eisbergs…aber, seht selbst.

Crashkurs: Das bedeutet Florian Malicke

Bevor wir ans Eingemachte gehen, hier ein Crashkurs in Sachen Neurodiversität. Schließlich sollten wir verstehen, worüber wir hier eigentlich reden. Neurodiversität ist der große Sammelbegriff für alle Arten von Gehirnen da draußen – und glaubt uns, die Unterschiede sind so vielfältig wie die Menschheit selbst. Merke: Kein Gehirn gleicht dem anderen. Ein bisschen wie bei Fingerabdrücken. Das ist einfach ein biologischer Fakt.

Die Mehrheit der Gehirne, die einigermaßen ähnlich verdrahtet sind, nennen wir „neurotypisch” oder „neuronormativ.” Aber was ist mit den anderen? Diejenigen, deren Verdrahtung sich signifikant von der Norm unterscheidet, sind „neurodivergent.” Zum neurodivergenten Spektrum zählen beispielsweise Menschen mit ADHS, Autismus, Dyslexie, Trisomie 21, Multiple Sklerose, Dyskalkulie und viele andere.

Banken: Nicht eingestellt auf neurodivergente Menschen

Konservative Schätzungen sagen, dass rund 20 Prozent der Bevölkerung neurodivergent sind. Das bedeutet für Unternehmen im Finanzwesen zwei Dinge:

  1. Sie beschäftigen wahrscheinlich mehr neurodivergente Menschen als ihnen bewusst ist.
  2. Sie haben einen großen Teil der neurodivergenten Kundschaft bisher nicht mit passenden Produkten erreicht. (Kleine Wiederholung: 20 Prozent der Bevölkerung!)

Wir reden hier von einem echten Brachland. Ziemlich öde und oft eine Tortur – sowohl für die neurodivergente Kundschaft als auch für die Mitarbeitenden im Spektrum, weil:

  1. sie sich mit Stereyotypen konfrontiert sehen wie: Neurodivergente Personen seien weniger leistungsfähig, könnten sich nicht anpassen, seien unzuverlässig und emotional instabil, nicht belastbar, brauchen Sonderbehandlung. 
  2. Arbeitsweisen und -erwartungen nicht angepasst sind. Dazu zählen u.a. Ort und Rahmenbedingungen der Arbeitsumgebung, klare Kommunikation, Unterstützung individueller Arbeitsweisen, die Möglichkeit, Aufgaben zu einem Zeitpunkt und auf eine (ggf. andere) Art zu erledigen als das bisher gewohnt ist. 

Neuroinklusive Praktiken im Finanzwesen sind daher so selten wie Einhörner in Vorstandsetagen von Banken. Obwohl die Branche von Zahlen besessen ist, scheint sie die einfache Gleichung nicht zu verstehen: neurodivergente Talente + inklusive Praktiken = Innovationspotenzial.

Andere Branchen sind den Banken und Fintechs voraus

Während andere Sektoren wie die IT-Branche langsam den Wert neurokognitiver Vielfalt erkennen, hinkt das Finanzwesen noch immer hinterher. Es ist, als würden sie immer noch mit dem Abakus hantieren, während der Rest der Welt längst auf den Taschenrechner umgestiegen ist.

Die Finanzwelt ist nach wie vor weitgehend auf neurotypische Arbeitnehmende zugeschnitten, mit starren Strukturen und suboptimalen Arbeitsbedingungen, die keinen Raum für verschiedene neurokognitive Fähigkeiten lassen. Aber, liebe Finanz-Gurus, anders heißt nicht schlechter. Anders heißt einfach anders. Das zu ignorieren ist nicht nur kurzsichtig aus einer Diversity-Perspektive, sondern auch eine verpasste Chance für Ideenreichtum und kreative Problemlösungen.

Neurodiversität: Deshalb lohnt sie sich für Banken

Neuroinklusion ist nicht nur ein moralischer Imperativ, sondern auch eine finanzielle Strategie, die sich auszahlen könnte. Stellt euch den Impact für die Branche vor, wenn sie die analytischen Fähigkeiten, die viele Autist*innen mitbringen (viel besser) nutzen würde oder von dem Out-of-the-Box-Thinking profitieren könnte, das bei vielen Menschen mit ADHS zum Standardprogramm gehört. Dazu müsste sie allerdings als Erstes ihre Definition von Talent erweitern.

Die Einbeziehung neurodivergenter Mitarbeitender bietet der Finanzwelt eine Reihe von Vorteilen, die sowohl wirtschaftlicher als auch kultureller Natur sind. Hier kommen einige Punkte, die man sich am besten ausdruckt und gleich an die Wand hängt:

  1. Erhöhte Innovationsfähigkeit: Neurodivergente Menschen bringen oft einzigartige Perspektiven und Denkweisen mit, die zu innovativen Lösungen und neuen Ansätzen führen können. Das ist besonders wertvoll in der Finanzbranche, wo kreative Problemlösungen und neue Ideen Gold wert sind.
  2. Verbesserte Produktivität und Effizienz: Studien zeigen, dass neurodiverse Teams oft produktiver sind als ausschließlich neurotypische Teams – bis zu 30%. Warum? Weil viele neurodivergente Mitarbeitende oft eine außergewöhnliche Konzentration und Detailgenauigkeit an den Tag legen, ideal für Bereiche wie Datenanalyse und Compliance.
  3. Stärkung der Kundenorientierung: Mitarbeitende mit neurodivergenten Eigenschaften, wie etwa erhöhter Empathie oder Sensibilität, können die Qualität der Kundenbetreuung verbessern. Das hilft, die Bedürfnisse von Kunden besser zu verstehen und darauf einzugehen. Und bitte vergesst das Klischee, dass autistische Menschen keine Empathie hätten.
  4. Verbesserte Mitarbeiterbindung und -zufriedenheit: Banken, die ein inklusives Arbeitsumfeld schaffen, das neurodivergente Mitarbeitende unterstützt, erleben oft eine höhere Mitarbeiterbindung. Warum? Weil sich Mitarbeitende, die sich wertgeschätzt und verstanden fühlen, weniger schnell abwerben lassen.
  5. Erfüllung von Diversity-Zielen und gesellschaftlicher Verantwortung: Die Einbeziehung neurodivergenter Mitarbeitender trägt dazu bei, die Diversity-Ziele von Banken zu erreichen und ihre gesellschaftliche Verantwortung zu stärken. In einer zunehmend diversen Gesellschaft erwarten Kunden und Investoren, dass Unternehmen inklusiv und sozial verantwortlich handeln.

Bank of America oder BNP Paribas: Andere machen es vor

Das Ausland macht es vor: International gibt es positive Beispiele, wie Banken und Finanzinstitute durch gezielte Programme neurodivergente Talente fördern und integriere: die Bank of America(US), BNP Paribas (US), RHB Bank (Malaysia) und Wells Fargo (US) zum Beispiel. Die Einführung von flexiblen Arbeitszeiten, unterstützenden Technologien und gezielten Schulungsprogrammen für Führungskräfte sind einige der Maßnahmen, die den deutschen Banken helfen könnten, eine integrativere Arbeitsumgebung zu schaffen. Wichtig ist auch die Sensibilisierung für die Bedürfnisse neurodivergenter Mitarbeitender, um deren Potenziale voll auszuschöpfen und gleichzeitig ein unterstützendes Arbeitsumfeld zu gewährleisten. 

In Deutschland sehen sich neurodivergente Mitarbeitende jedoch oft systemischen Barrieren gegenüber, einschließlich Vorurteilen, die zu Missverständnissen oder gar Ausgrenzung am Arbeitsplatz führen können. Um dem entgegenzuwirken, sollten Banken ihre Strategien für Diversität, Gleichberechtigung und Inklusion (DEI) weiterentwickeln, um Neurodiversität stärker zu berücksichtigen. Noch ist das kaum der Fall.

Höchste Zeit, dass die Finanzwelt ihren Ansatz zu Neuroinklusion überprüft. Denn eine engstirnige Denkweise in einem Zahlenspiel kann in mehrfacher Hinsicht kostspielig sein. Wer will schon riskieren, das Einhorn zu verpassen, das echte Veränderungen bringt?

von Dila, Florian und Alex aka “Alex und die Gestörten” (Selbstbezeichnung)

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