Die Kryptowährung ist zweifellos das größte Phänomen, das den Finanzsektor seit dem Internet getroffen hat. Sie sind nicht einfach eine neue Art von Investitionen, sondern eine völlig neue Anlageklasse. Das letzte Mal, als die Welt eine völlig neue Anlageklasse sah, war vor über 300 Jahren, als die Bank von England die erste Staatsanleihe zur Finanzierung eines Krieges mit Frankreich herausgab. Wenn sich Kryptowährungen weiterhin so etablieren und erfolgreich sein werden, dann werden die Auswirkungen global und tiefgreifend sein.
Wir sprechen mit Andy Bryant, COO von bitFlyer Europe, über das Verhältnis von Kryptowährungen und dem Finanzdienstleisungsmarkt und wie Kryptowährungen die heutige globale Finanzlandschaft verändern könnten.
Mr. Bryant, teilen Sie folgende Aussage: Die Zukunft der Kryptowelt steht wegen der Coronakrise vor einer Neubewertung.
Ja, dem stimme ich zu. Allgemein steht die Kryptowelt vor einer Neubewertung, denn: Immer mehr Menschen verstehen ihr Wertversprechen, ihre ursprüngliche Prämisse und ihr Zukunftspotenzial in einer Welt instabiler Finanzsysteme. Bloomberg sagt, dass Geld seinen Wert verliert. Diese Meinung teile ich, vor allem jetzt mitten in der Corona-Pandemie. Viele fragen sich gerade zurecht: Warum werden Fluggesellschaften gerettet, wenn sie 90 Prozent der Nettogewinne der letzten zehn Jahre ausgegeben haben, um ihre eigenen Aktien zurückzukaufen und die Boni für Führungskräfte zu beschneiden? Oder warum gibt es Obdachlose, wenn wir ganz einfach Billionen von Dollar umsonst drucken können?
Wo sehen Sie angesichts der aktuellen Situation die Chancen und die Risiken für Kryptowährungen?
Aufgrund der aktuellen Situation sehe ich viele Chancen für die Kryptowelt: Eine ist beispielsweise der dramatische Anstieg der Krypto-Preise durch große Kapitalallokationen von großen Akteuren und traditionelleren Institutionen, die verzweifelt nach Renditen und Schutz vor der “Old Economy” suchen. Ebenso vorteilhaft ist die Stilllegung des Zinssystems und die dadurch entstehende Verstaatlichung des Finanzsektors zu einem dezentralen Finanzsystem, welches extrem schnell wächst und ohne Einschränkungen durch die alte Infrastruktur aufgebaut wird.
Ebenfalls sehe ich die Erosion der Macht und den Einfluss korrupter oder ineffektiver Währungsregime und Währungen in den Schwellenländern als Chance – ersetzt durch eine bessere Krypto-Alternative.
Auch wird ein Kampf zwischen souveränem Geld, der Volkswährung und Unternehmensgeldern entstehen. Souveräne (z.B. Fiatgeld) werden sich in Richtung CBDCs (Central Bank Digital Currencies) bewegen, um eine effektivere Verteilung des bedingungslosen Grundeinkommens zu erreichen – nur mit größerer Überwachung. Unternehmensgelder werden durch das Libra-Projekt von Facebook zur Schaffung neuer grenzüberschreitender Paradigmen beschleunigt. Und öffentliche Kryptowährungen wie Bitcoin, die frei von Kontrolle und Korruption sind und das Konzept des “souveränen Individuums” vorantreiben, werden weiter voraus marschieren.
Die Liste der Chancen ist endlos, wie Sie merken. Doch alles hat auch eine Kehrseite. Mit Sicherheit werden Preisunsicherheit und Volatilität folgen. Auch die Preisschwankungen sind nicht ungefährlich: Wenn die Werte zu schnell zu hoch steigen, werden Verbraucher anfangen exzessiv zu spekulieren und die Regulierungsbehörden müssten sich einschalten. Das könnte Regierungen dazu verleiten, öffentliche Kryptowährungen zu verbieten oder gegen sie vorzugehen. Meiner Meinung nach wäre das sehr unklug und abgesehen davon fast unmöglich. Das würde die Innovation nur ins Ausland verlagern.
Kryptowährungen sind bislang noch nicht in der breiten Masse angekommen – wird sich das angesichts der Krise ändern?
Viele Menschen verstehen einfach nicht, was Kryptowährungen eigentlich sind und was man mit ihnen machen kann. Wir brauchen noch etwas mehr Zeit, ich denke aber, dass das Interesse steigen wird – spätestens wenn die Krypto-Preise durch die Decke schießen. Momentan jedoch ist die für den Laien kompliziert erscheinende Kryptowährung abschreckend – das müssen wir ändern.
Unabhängig von der Krise wird es bald ein sehr wichtiges Ereignis bei Bitcoin geben: Das sogenannte Bitcoin-Halving, das nur alle vier Jahre stattfindet und das in früheren Zeiten große Preisanstiege ausgelöst hat. Am 18. Mai 2020 werden Miner 50 Prozent weniger Bitcoins für die Verifizierung der Transaktionen erhalten, was voraussichtlich viel Aufmerksamkeit erregen wird. Der stark angestiegene Google-Suchtrend für das Bitcoin-Halving verrät das allgemeine Interesse an dem Event.
Sollten Ihrer Meinung nach künftig alle Kryptowährungen haben, um in Krisenzeiten gewappnet zu sein?
Kryptowährungen wie Bitcoin sind eine “Kaufoption” der Zukunft. Sie stellen nicht nur einen Vermögenswert dar, sondern eine ganz neue Anlageklasse. Eine, die völlig getrennt von dem gesamten Finanzsystem ist, das wir heute haben. Kryptowährungen sind unpolitisch, global, staatenlos, immun gegen quantitative Lockerung, nachweislich knapp und dezentralisiert. Da das heutige Finanzsystem völlig instabil ist, empfehle ich jedem, zumindest ein bisschen Kleingeld in die Hand zu nehmen und anzulegen. Ich betrachte es als eine asymmetrische Investition: Sicher gibt es eine Chance, alles zu verlieren, obwohl ich das für ziemlich unwahrscheinlich halte. Aber es gibt auch die Chance, dass sich der angelegte Wert um das Hundertfache vervielfacht. Warum also nicht einfach ein bis zwei Prozent des Vermögens in Bitcoin anlegen?
Wäre es nicht sinnvoller, in Gold zu investieren? Das Vertrauen der Anleger ist höher, das Gut ist aber ebenso verknappt?
Aus verschiedenen Gründen habe auch ich in Gold investiert. Nicht nur, weil es ein ebenso knappes Gut wie Bitcoin ist, auch weil es inzwischen eine 6.000 Jahre lange Erfolgsgeschichte als Wertaufbewahrungsmittel verzeichnet. Gold bietet eine bessere Rendite als Bargeld oder Anleihen mit negativen Zinsen und es ist eine größere Anlageklasse als Bitcoin (neun Billionen US-Dollar gegenüber 130 Milliarden US-Dollar für BTC). Der wesentliche Unterschied, der Bitcoin in meinen Augen jedoch zum Gewinner macht, ist: Bitcoin existiert ausschließlich in der digitalen Welt und ist somit dezentral. Gold wiederum lässt sich zwar auch transferieren, doch der Transportaufwand ist enorm und die Lagerung mit weiteren Kosten verbunden. Das macht Bitcoin für alle Edelmetalle zu einem starken Gegner auf dem Wertspeicher-Markt.
Lange Zeit galt der Bitcoin als absolut krisenfest – wie erklären Sie den Zickzackkurs der letzten Wochen?
Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass das, was beim Ausbruch dieser Krise geschah, ein Liquiditäts-Ereignis war und nicht ein Wirtschafts- oder Banken-Ereignis. Alle finanziellen Vermögenswerte wurden verkauft – einschließlich Aktien, Krypto und sogar Gold. Die Investoren waren wie verrückt hinter Bargeld her, weil das für sie als sicherstes Mittel schien, ihre Schulden zu begleichen. Angesichts des jüngsten Anstiegs der Besitzverhältnisse von Institutionen und Brokern, wurde Bitcoin besonders hart getroffen.
„Es ist wichtig zu verstehen, dass das, was beim Ausbruch dieser Krise geschah, ein Liquiditäts-Ereignis und kein Wirtschafts- oder Banken-Ereignis war.“
Viele dieser Institutionen wären gezwungen gewesen wären, ihre Anlagen zu verkaufen, um Margin Calls und Sicherheitsanforderungen zu erfüllen. Auch die Tatsache, dass die Krypto-Märkte rund um die Uhr geöffnet sind, führte zu einem besonders schnellen Rückgang.
Trotz dieser anfänglichen Baisse setzte die Erholung schnell ein: Bitcoin hat sich seit dem Tiefstand von 3867 US-Dollar am 13. März diesen Jahres bereits zu etwa 80 Prozent erholt, während S&P nur einen Bruchteil davon geschafft hat. Es stimmt auch, dass die relativ geringe Größe der Marktkapitalisierung Bitcoin anfällig für große Preisbewegungen macht, wenn Kapital ein- und ausfließt.
Wann wird sich der Markt erholt haben und steht Ihrer Meinung nach der Bitcoin/andere Kryptos vor einem neuen Hype?
Schätzungsweise dann, wenn Bitcoin wieder über 10.000 US-Dollar steigt. Ich bin mir sehr sicher, dass es einen neuen Hype geben wird. Denn: 99 Prozent der Main Street- und Mainstream-Medien neigen dazu, die Technologieentwicklung zu ignorieren und sich nur auf den Preis zu konzentrieren. So wird eine weitere Blase sehr wahrscheinlich auch einen weiteren Hype-Zyklus auslösen.
Wie kann das Vertrauen der Verbraucher in Kryptos in Zeiten der Krise aufgebaut werden?
Glücklicherweise lassen immer mehr Mainstream-Medien die Negativ-Spin-Kampagne und falsche Erzählungen fallen (z.B. Bitcoin wird nur von Kriminellen genutzt) und berichten stattdessen positiv oder zumindest neutral über die Technologie. Es ist wichtig, die Aufmerksamkeit auf die unkorrelierte Natur des Preisverhaltens von Kryptowährungen zu lenken. Wir müssen die Verbraucher über die Geldgeschichte aufklären und ihnen vermitteln, dass jede Fiat-Währung durch übermäßige Nutzung der quantitativen Lockerung oder Entwertung scheitert. Immer mehr Regierungen, Vordenker und vertrauenswürdige Institutionen befürworten Krypto-Währungen, doch weiterhin sind viele Menschen schlicht nicht über die Vorteile der Krypto-Währung aufgeklärt. Einige Tools und Anwendungen haben sich bereits darauf fokussiert, das allgemeine Verständnis von Kryptowährungen zu fördern und die einzelnen Prozesse genau zu erklären.