So verschreckt Deutschland seine Selbstständigen: Eine Wunschliste für die neue Regierung

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Die Bundestagswahl steht unmittelbar bevor, der Wahlkampf der Parteien befindet sich im Endspurt. Viele Wähler sind sich noch unsicher, wo sie am Sonntag ihr Kreuzchen setzen sollen. Wir haben unterdessen Akteure der Branche gefragt: „Was wünscht ihr euch in der kommenden Legislaturperiode von der neuen Bundesregierung?“ Die Wunschliste an die kommende Regierung veröffentlichen wir täglich an dieser Stelle.

Gastbeitrag Christopher Plantener, CEO und Co-Founder Kontist, und Melchior Neumann, Kanzleimanager der Kontist Steuerberatung und Co-Founder des Kontist Steuerservices

Wir bei Kontist richten uns an Solo-Selbstständige und Freiberufler. Diese Zielgruppe wird von der Politik gerne ignoriert, was viele absurde Blüten treibt. Auch die Steuerberaterbranche muss dringend modernisiert werden. Für Buchhaltung und Banking hätten wir ebenfalls ein paar Ideen… Und bringen dementsprechend eine lange Wunschliste für die neue Regierung mit:

1. Bürokratie verringern:

  • Dramatische Vereinfachung der Bürokratie für Solo-Selbständige: Wir wünschen uns für Solo-Selbstständige einen Status vergleichbar mit dem „Auto-Entrepreneur“ in Frankreich. Dort haben Solo-Selbstständige den Status eines Kleinunternehmers bis maximal 170.000 Euro Umsatz im Jahr bei Gütern bzw. 70.000 Euro bei Dienstleistungen. Dadurch müssen sie keine Umsatzsteuer abführen. Die Besteuerung sowie die Sozialabgaben erfolgen monatlich/per Trimester zu festen und deutlich vereinfachten Sätzen, die sofort abgerechnet werden. Ein eigenes Business gründen kann man dort online oder per App in Minutenschnelle.
  • Ausschließlich elektronische Kommunikation mit dem Finanzamt: Die meiste Kommunikation mit dem Finanzamt findet in Deutschland nach wie vor auf dem Postweg statt. Wünschenswert wäre eine Online-Plattform mit offener API, in der ich als Steuerpflichtiger alle Daten/Dokumente einsehen und ändern kann
  • Vereinfachung der digitalen Aufbewahrungspflicht: Die Aufbewahrungspflicht sollte auf maximal 5 Jahre verkürzt werden. Außerdem sollte eine vereinfachte und hundertprozentige digitale Archivierung ermöglicht werden. Momentan ist die digitale Archivierung an so viele Vorschriften (AO, HGB, GoBD) geknüpft, dass fast jeder seine Unterlagen auch physisch archiviert.
  • Reduzierung der archivierungspflichtigen Unterlagen: Heute müssen z.B. auch E-Mails revisionssicher archiviert werden, was aber fast niemand macht, weil das unverhältnismäßig viel Arbeit verursacht.

2. Freiberufler und gewerbetreibende Einzelunternehmer gleich behandeln:

  • Mehr Sicherheit ob Freiberufler oder Gewerbe: Bei der Gründung müssen sich Selbständige entweder als Gewerbetreibende oder Freiberufler registrieren. Da es keine zentrale Beratungsstelle gibt, passieren dabei häufig Fehler, die zu Mehrarbeit, Mehrkosten und Rechtsunsicherheit führen. Insbesondere neue Berufe, die durch die Digitalisierung entstanden sind, sind dadurch stark betroffen. Wir fordern diese Unterscheidung zwischen Freiberuflern und Gewerbetreibenden bei Solo-Selbständigen abzuschaffen
  •  EÜR für alle Einzelunternehmen: Die Rechtsform “Einzelunternehmen” unterteilt sich in zwei große Gruppen: Freiberufler und Gewerbetreibende. Für Freiberufler ist es immer möglich, eine vereinfachte Form der Gewinnermittlung (Einnahmen-Überschuss-Rechnung) zu erstellen. Bei Gewerbetreibenden ist dies nicht der Fall und sie müssen umständlich eine Bilanz erstellen, sobald sie bestimmte Umsatz- (600.000 Euro/Jahr) oder Gewinngrenzen (60.000 Euro/Jahr) überschreiten. Eine vereinfachte Gewinnermittlung sollte für alle Einzelunternehmen möglich sein.
  • Abschaffung der Gewerbesteuer für Einzelunternehmer: Freiberufler zahlen keine Gewerbesteuer. Gewerbetreibende zahlen zwar Gewerbesteuer, dürfen sie aber fast zu hundert Prozent auf ihre Einkommensteuerschuld anrechnen. Der Staat hat durch die Gewerbesteuer also fast keine Zusatzeinnahmen, alle Gewerbetreibenden haben aber erheblichen Mehraufwand durch eine zusätzliche Steuererklärung.

3. Steuerberatung modernisieren:

  • Steuerliche Beratung und Betreuung von nicht-bilanzierungspflichtigen Unternehmen keine Vorbehaltsaufgabe eines Steuerberaters: Aktuell gibt es eine Reihe von Aufgaben, die nur von Steuerberatern erledigt werden dürfen (z.B. Umsatzsteuer-Voranmeldung, Erstellung einer EÜR, Erstellung von Steuererklärungen). Bei Angestellten gibt es auch eine vereinfachte Lösung und beispielsweise Lohnsteuerhilfevereine dürfen die Steuererklärungen erledigen. Wir fordern das gleiche Recht für Einzelunternehmen, die nur eine einfache Einnahmen-Überschuss-Rechnung erstellen müssen.
  • Vollständige Öffnung des Marktes für Steuerberater aus dem EU-Ausland: Bisher können ausländische Steuerberater in Deutschland nur ihre Tätigkeit ausüben, wenn sie selbst einen Sitz in Deutschland haben bzw. die Steuerberaterprüfung ablegen. Das ist nach dem Europäischen Gerichtshof ein Verstoß gegen die innereuropäische Dienstleistungsfreiheit.
  • Abschaffen der Steuerberatervergütungsordnung für nicht-bilanzierungspflichtige Unternehmen: Die Steuerberatervergütungsverordnung (StBVV) ist ein Gesetz, das Steuerberatern vorschreibt, wie viel sie für bestimmte Tätigkeiten abrechnen müssen. Wenn ein Steuerberater zum Beispiel durch bessere Prozesse oder neue Technologie effizienterer arbeitet, muss er dennoch den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestsatz berechnen. In anderen Branchen wäre das ein illegales Kartell. Wir fordern die Abschaffung.
  • Rechtssicherheit nach maximal 3 Jahren: Bei einer Betriebsprüfung kann das Finanzamt bis zu 10 Jahre in die Vergangenheit gehen und die komplette Buchhaltung in Frage stellen. Dadurch haben alle Selbständige erst nach 10 Jahren absolute Rechtssicherheit. Wir fordern, dass diese Grenze auf 3 Jahre gesenkt wird. Auch wieder im Vergleich mit Angestellten: Als Angestellter wird man grundsätzlich als unschuldig wahrgenommen und behandelt und man hat sehr früh absolute Rechtssicherheit. Als Selbständiger wird einem grundsätzlich unterstellt, dass man Fehler macht bzw. wird einem sogar Vorsatz unterstellt. Wir fordern, dass diese Ungleichbehandlung beendet wird.

4. Buchhaltung vereinfachen:

  • “Vereinfachter Nachweis” für Betriebsausgaben bis 300 Euro: Für die Anerkennung einer Betriebsausgabe benötigt man aktuell immer eine Rechnung oder Beleg. Das ist im Alltag insbesondere bei internationalen Geschäftspartnern (z.B. Online-Tools & Plattformen) ein großes Problem, weil man häufig keinen solchen Beleg bekommt. Wir fordern die Anerkennung eines “vereinfachten Nachweises”. Eine ähnliche Regelung gibt es bereits bei privaten Spenden bis 300 Euro pro Spende. Dort reicht als Nachweis die Buchungsbestätigung von der Bank, die zweifelsfrei beweist, dass diese Zahlung stattgefunden hat. Wir fordern, dass diese Regelung auch für Betriebsausgaben bis 300 Euro gilt.
  • Betriebskostenpauschalen für Reisen, Bürokosten, Bewirtung und mehr: Angestellte haben in ihrer Steuererklärung eine Werbungskostenpauschale in Höhe von 1.000 Euro, die komplett ohne Begründung und Nachweis in der Steuererklärung geltend gemacht werden kann. Wir fordern analog dazu eine Betriebskostenpauschale für Einzelunternehmen. Auch Selbständige sollten bestimmte Kosten pauschal ohne Nachweis absetzen dürfen. Das reduziert den Buchhaltungsaufwand, weil man nicht mehr jedes 1-Euro-Parkticket sammeln und buchen muss, und ermöglicht eine automatisierte Buchhaltung.
  • Anpassung der Gesetzgebung für maschinell erstellte Buchhaltung: Durch die Vorbehaltsaufgaben der Steuerberater (siehe oben) ist es rechtlich unmöglich, eine komplett automatisierte Buchhaltung zu erstellen, die sich selbst übermittelt. Da eine Software keinen Steuerberatertitel hat, darf eine Software also nicht die vollständige Buchhaltung inkl. USt-VA, EÜR usw. erstellen, auch, wenn es möglich wäre. Ein letzter manueller Klick ist gesetzlich vorgeschrieben. Wir fordern, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen so angepasst werden, dass eine Buchhaltung auf Autopilot zulässig ist.

5. Aufbewahrungspflicht im Banking anpassen:

  • Kontotransaktionen für mindestens 3 Jahre kostenlos zur Verfügung stellen: Durch den oben geforderten verkürzten Prüfungszeitraum (drei Jahre) und den “vereinfachten Nachweis” für Betriebsausgaben bis 300 Euro kommen Kontoauszügen/Transaktionsdaten eine höhere Bedeutung zu. Die Aufbewahrungspflicht wollen wir nicht den Selbständigen auferlegen, sondern die Banken dazu verpflichten, diese Daten für mindestens 3 Jahre per API kostenlos zur Verfügung zu stellen. Aktuell ist das bei den meisten Banken nicht der Fall.

Über die Autoren:

Christopher Plantener ist CEO und Co-Founder von Kontist, Melchior Neumann ist als Kanzleimanager der Kontist Steuerberatung tätig. Über die Kontist-App können Selbstständige ein Geschäftskonto eröffnen sowie ihre Rechnungsstellung, Buchhaltung und Steuerangelegenheiten rechtssicher und unkompliziert regeln. 

In dieser Serie bereits erschienen:

Morgen an dieser Stelle:

Julia Martens. Director Operations & Risk bei Viafintech

Autor

  • Die studierte Soziologin und Medienwissenschaftlerin beobachtet, analysiert und schreibt als Journalistin seit vielen Jahren über die Startup- und Fintechszene. In der Vergangenheit arbeitete sie für führende on- und offline Gründer- und Wirtschaftsmedien im In- und Ausland, moderiert und schrieb mit Kollegen ein Buch über Unternehmen im Ruhrgebiet. Seit 2019 arbeitet sie für Payment & Banking, seit 2020 ist sie festes Redaktionsmitglied und ist in dieser Position verantwortlich für alle Themen Content, Planung und Entwicklung neuer Medienformate. In ihrer Zeit bei Payment & Banking ist sie zudem eine eifrige Podcasterin geworden.

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