Kein Fortschritt im Permafrost – ein eisiger Jahresrückblick

Kolumne von Alex Gessner

Brrrrrrrrrrr! Ist Euch auch so kalt? Nein? Es liegt nicht mal Schnee, Weihnachten bei 10°C in Deutschland, globale Erwärmung und so? Ja, das stimmt natürlich. Wenn ich, wie zu dieser Jahreszeit üblich, auf das vergangene Jahr in meiner Lieblingsbranche schaue, dann muss ich mich allerdings gleich in drei Decken gleichzeitig packen.

Was war das für ein Jahr?

Nun, als (weißer) Mann lautete das Motto letztes Jahr „Winter is Coming“. 2023 hat die BaFin ihre Schneeschuhe angezogen und ist tiefer in die Welt der Überwachung eingedrungen: Fintechs, Banken, Finanzinstitute, alles, was irgendwie mit Geld zu tun hatte, fand sich plötzlich auf einem gefrorenen See wieder. Jeder Schritt auf dem dünnen Eis musste mit Vorsicht erfolgen. 

Völlig überraschend, dass eine Finanzaufsicht…Player in der Finanzwelt beaufsichtigt. Aber Banker halten es wie Christian Lindner, Probleme sind nur dornige Chancen und so. Investoren und Kunden (absichtlich maskulin gegendert) konnte man erzählen, dass die Bafin übertreibe. 

Völlig überraschend, dass eine Finanzaufsicht…Player in der Finanzwelt beaufsichtigt.

Und, wenn alle irgendwie einen Sonderprüfer im Haus haben, ist es dann noch so besonders? Ein kleiner Trost in eisigen Zeiten.

Die fetten Jahre rücken dennoch weiter in die Vergangenheit. Insolvenzen, die Leverage-Ratio-Vorgaben machen einen Strich durch die Rechnung des großen Reibachs für Banken und Fintechs mit Sparzinsen. Und, mal ehrlich, wehgetan hat das schon, als die BaFin anfing, in manchen Unternehmen die Management-Boni einzufrieren. Als Mitarbeitende kann man da nur klatschen, also Applaus, denn es hat schon ein bisschen überhand genommen mit den extrem hohen Cash-Boni für Manager in Krisenzeiten, mit Layoffs auf den niederen Ebenen statt Gehaltskürzungen ganz oben, Hiring Freezes und fehlendem Inflationsausgleich. Aber klar, die wirtschaftliche Schieflage hatte natürlich ausschließlich mit dem makroökonomischen Umfeld zu tun.

Dank der harten Schule des Pay Gaps sind Frauen es ja auch gewöhnt, weniger zu bekommen.

Für Frauen ist das alles auch passiert. Also, die Streichung der Management-Boni trifft uns weniger, so viele von uns finden sich ja nicht im Top Management. Und dank der harten Schule des Pay Gaps sind wir es ja auch gewöhnt, weniger zu bekommen. Welch Glück!

Herumstolpering in ze Schneegestöber

2023 stand für (weiße) Frauen in der Finanzbranche nicht unter dem Motto „Winter is coming”. Für uns winter is already here. Und so gerne ich über “Breaking the Glass Ceiling“ schreiben möchte, kann ich das für 2023 nicht. Es war eher „Herumstolpering in ze Schneegestöber“. 

Eine der besten Studien zum Thema Gender Equity kommt jedes Jahr von BCG, die „Gender Equality Study of the European Banking Sector“. Und diese zeigt die Katastrophe in vollem Ausmaß. 2022 sahen die Ergebnisse noch nach Fortschritt aus – zwar sehr langsam, aber hey, Bewegung in die richtige Richtung: 22% der Vorstände europäischer Banken waren Frauen. 2 deutsche Banken waren in den Top 10 der europäischen Banken! Und 2023 haben wir diesen Trend natürlich fortgesetzt, oder? Oder? 

Naja. Es ist jetzt nur noch eine deutsche Bank in den Top 10. Mit einem Frauenanteil von 29% im Vorstand. Und europaweit haben wir den Frauenanteil an der Spitze um einen ganzen Prozentpunkt gesteigert. Mehr Wachstum gab es nur beim Pay Gap in Aufsichtsräten, der ist jetzt 5 Prozentpunkte höher als 2022.

Spürt ihr den eisigen Wind schon? Wenn nicht: Wir sprechen hier von europäischen Ergebnissen. Deutschland spielt da ja sicher im oberen Drittel mit, oder? Oder? Nein, wir liegen in allen Zielgrößen unter dem gesamteuropäischen Durchschnitt. Wir kennen das ja schon von Bildung und Digitalisierung: Deutschland schlittert weiter ab. Frauenanteil in deutschen Finanzvorständen: 9 %. Zum Vergleich: 2022 waren es 14,4 %.

Deutschland bleibt der tiefen und hartnäckigen Ungleichheit treu

Während in Europa also insgesamt der Schnee (seeeehr langsam) schmilzt, und mehr Frauen Vorstands- und Aufsichtsratspositionen besetzen, die mit Innovation und Vielfalt die Finanzlandschaft umgestalten, bleibt Deutschland der tiefen und hartnäckigen Ungleichheit treu, die sich durch die Finanzbranche zieht. Wer braucht schon mehr Innovation, Profit oder positiver Aktienentwicklung in Krisenzeiten? 

Dann wäre da noch #MeToo in der Branche, wie Nina Anika Klotz und Solveig Rathenow im November auf Business Insider berichteten. Läuft für Frauen in der Fintech-Branche.

Jetzt war in beiden Rückblicken von „weißen“ Menschen die Rede – warum? Ganz einfach, für nicht-weiße Personen unserer Branche gab’s all diese Probleme zwar auch – aber sie kriegen noch viel mehr davon, wie toll! Wir finden sie noch viel weniger in Senior Management und Vorstandspositionen, sie sind überdurchschnittlich von den Layoffs betroffen und sie haben kaum Sichtbarkeit im öffentlichen Raum. 

Los, ohne zu googlen, nennt mir eine Person, die nicht weiß ist, die dieses Jahr auf einem Event der Finanzwelt auf der Bühne stand und einen Preis entgegengenommen hat? Keynotes, Panels, nennt mir all die vielen Menschen, die auf den großen Bühnen standen, die nicht so aussehen, wie der Standard-Vorstand einer deutschen Bank? Ich warte.

Mehr als die Hälfte unserer Banken hat noch nicht mal irgendwelche Ziele in Bezug auf Geschlecht – geschweige denn auf irgendwelche anderen Diversity Dimensionen.

Alles in allem bleiben wir auch 2023 alten Werten treu und vergraulen damit nicht nur Nachwuchstalente – 3 von 4 Arbeitssuchenden legen Wert auf echte Vielfalt – sondern verlieren auch den Anschluss. Vielfalt und Chancengerechtigkeit sind keine Frage von Besetzung, sondern der Unternehmenskultur. Und die verändert man nicht über Nacht. Während unsere Nachbarländer also bereits per Trial-and-Error austesten können, welche Maßnahmen und Programme funktionieren und wie sie angepasst werden müssen, um maximalem Erfolg zu erzielen, haben mehr als die Hälfte unserer Banken noch nicht mal irgendwelche Ziele in Bezug auf Geschlecht – geschweige denn auf irgendwelche anderen Diversity Dimensionen. Und ohne konkrete Ziele wird es schwierig – siehe Compliance. Wer hätte gedacht, dass wir hier wirklich klare Vorgaben brauchen, um uns an die Regeln zu halten? Wir brauchen erst die Sonderprüfer im Haus, um da endlich nachzubessern.

Für 2024 blicken wir auf eine Wetterfront, die für Deutschland eher trübe Aussichten bringt. Die Eiszeitvorhersage lautet: anhaltende Kälte, mit gelegentlichen Schneestürmen der Gleichgültigkeit und dichten Nebelschwaden, die den Blick auf echte Fortschritte trüben. Eine „Diversity Müdigkeit“ hat sich wie eine Eisschicht über das Land gelegt. Über Vielfalt zu sprechen, ist völlig ausreichend. Man muss nicht auch wirklich etwas verändern. Lieber erfrieren wir.

Für alle Entscheider, die darauf keine Lust mehr haben, gibt es noch eine letzte Chance. Denn es ist ja nicht nur die Zeit der Rückschau, sondern auch die Zeit der guten Vorsätze.

5 Vorsätze für alle Banken, Vorstände und Aufsichtsräte

  1. Stellt euch den Tatsachen. Erhebt die Daten in euren Unternehmen. Liegt ihr unter dem europäischen Durchschnitt? Oder sogar unter dem deutschen? Wie sieht’s mit dem Pay Gap aus? Nur wenn die Zahlen auf dem Tisch liegen, kann über Fortschritte oder Stagnation offen diskutiert und gehandelt werden. 
  2.  Legt Zielgrößen fest. Setzt klare und messbare Ziele für den Anteil von Frauen und unterrepräsentierten Gruppen in Führungspositionen und Vorständen. Verpflichtet euch zu einem Zeitplan, der echte Veränderungen bewirkt und nicht nur als wohlklingende Absichtserklärung dient.
  3.  Macht Ernst: Verknüpft Zielgrößen mit dem Jahresbonus – auf allen Ebenen.
  4.  Zeigt mal her: Veröffentlicht regelmäßig Daten zum Gender Pay Gap – und wenn ihr  schon dabei seid: jeglichen Pay Gaps, die in Ihr Unternehmen eingezogen sind. Werbt nicht nur mit 30% Frauen und 76 Nationen, die bei euch arbeiten. Zeigt  transparent, wo diese Talente in Ihrer Hierarchie stehen. Seid ihr schon raus aus der Ausgleichszahlung?
    Diese Themen kommen so oder so auf euch zu, sowohl die obligatorische Equal Pay Analyse als auch Details nicht nur zu euren Maßnahmen, sondern zur Wirksamkeit derselben im Rahmen der Nachhaltigkeitsberichterstattung. Ihr müsst nicht darauf warten, dass Gesetze euch zwingen, das Richtige zu tun.
  5. Schafft das inklusive Arbeitsumfeld, von dem ihr heute schon behauptet, dass ihr es habt. Dazu gehören organisationsweite Maßnahmen, Trainings, Prozesse und vor allem Konsistenz!

Autor

  • Alex Gessner ist COO bei ACI Diversity Consulting und Speakerin und Moderatorin. Finance Disruptor by day, diversity activist by night: in der Finanzbranche hat sie mehrere intersektionale Netzwerke aufgebaut, unter anderem futura bei Solaris, und die erste Datenerhebung in Europa durchgeführt, die nicht nur das Thema „Frauen und Finanzen“, sondern insbesondere trans* und migrantisierte Frauen in den Fokus stellt. Sie ist für ihr Engagement im Bereich Diversity von etlichen Unternehmen ausgezeichnet worden, darunter Global Digital Women, Beyond Gender Agenda, Impact of Diversity, sie ist als #1 Prout Executive von Prout At Work und vom Business Insider als eine der „25 Zukunftsmacherinnen, die ihre Branche maßgeblich verändern“ ausgezeichnet worden.

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