Ich will endlich WeChat!

Ich will endlich WeChat
7 Jahre nach dem Start von WeChat in China quälen wir uns in Europa noch immer mit hunderten von Einzel-Apps auf unseren Smartphones. Für Rafael Otero völlig sinnfrei, unübersichtlich und ärgerlich. Warum wie immer so schwer, wenn es doch so einfach sein kann? Die Antwort für „All in one“ kommt für ihn aus China und heißt WeChat.
Ich will endlich WeChat
Photo credit: MattHurst on Visualhunt.com / CC BY-SA
Ich gebe es zu, ich bin neidisch. Seit Jahren wünsche ich mir verzweifelt den Markteintritt von WeChat in Europa und es will und will einfach nicht passieren. Aber warum will ich WeChat oder anders gefragt warum muss ich mich immer noch mit dutzenden einzelnen Apps auf meinem Smartphone rumquälen? Sicherlich die iPhone Revolution ist untrennbar mit dem Erfolg des AppStores verbunden. Jedoch hat sich seit dem Start im Jahr 2008 eigentlich nicht wirklich viel getan. In dem AppStore von Apple tummeln sich Aber-Millionen von Apps die einem angeblich das Leben leichter machen sollen (Wikipedia führt 2,2 Mio. Apps im Januar 2017 auf) und bestimmte Aufgaben leichter machen sollen. Aber was bringt mir diese Masse an Apps wenn es keine gescheite Möglichkeit gibt, die richtige App zu finden? Discovery ist eine Dekade nach dem Start der AppStores immer noch ein ungelöstes Problem (wie auch immer dieses Genius von Apple funktionieren soll, aber mit Intelligenz hat das wenig zu tun). Discovery bezieht sich in diesem Fall sowohl auf das intelligente “Auffinden” passender Apps, als auch auf die Suche. Neue Apps installiert man nur noch auf “Empfehlung”.

WeChat oder warum Silos nicht funktionieren

WeChat als Heilsbringer? Auch hier gibt es sogenannte “Mini Programme” oder Apps die allerdings innerhalb der WeChat App existieren. Im Januar 2018 waren das etwas mehr als 580.000 solcher Erweiterungen. Also doch keine Lösung des Problems? Dabei sind die WeChat Erweiterungen mitnichten “nur” ein weiterer AppStore in einer App. Lösen wir uns kurz von WeChat als App und denken wir mal von Endkunden her. Was will ich oder einfacher was will ich nicht?
  • Warum soll ich ein dutzend Apps brauchen um mir das Leben einfacher zu machen? Einige Apps sind ja nüchtern betrachtet eher ein Feature.
  • Warum kann nicht alles was ich brauche zum richtigen Zeitpunkt an einer Stelle auftauchen?
  • Warum macht jeder Anbieter seinen eigenen Rave und probiert mich zwanghaft auf “seine” App zu zwingen? Das mag aus “Marken”-Sichtbarkeit toll sein, für den Kunden ist es murks.
Wir Menschen sind ja leidens- und anpassungsfähig. Was in der Natur sicherlich im Generellen von Vorteil ist, heißt insbesondere bei Technik aber auch, dass wir uns an jeden Mist gewöhnen. Von Tastaturen über Mäuse, von Schreibtisch-Metaphern zu Silo-Denken. Das Problem dabei ist nur, dass wir als Menschen einfach irgendwann merken, dass diese Anpassungen anstrengend und nervig sind – und zwar je wider natürlicher desto anstrengender. Wir Menschen denken nicht in Silos, wir denken auch nicht in Schreibtischen und nicht in Baumstrukturen. Der Vorteil des Menschen und dieses Supercomputers, was aus grauer Materie in unseren Schädeln rumschwabbelt, ist das wir hervorragend chaotisch sind – in der Mikro-Ebene zwar sequentiell (jap dieser Kram mit parallel Sachen machen ist Quark) aber in der Makro-Ebene komplett chaotisch. Am Besten lässt sich das illustrieren, wenn man mal für 5 Minuten die Augen zumacht und sich einfach nur entspannt. Plötzlich schiessen einem dutzende Gedanken durch den Kopf. Sind die strukturiert? Nein. Sind diese in irgendeiner Ordnung? Nein. Zum Teil kommen einem dabei Ideen oder Gedanken wo man sich im nächsten Augenblick wundert wo die gerade herkamen. Angeblich gibt es ja eine App für jedes Problem (oder anders herum?). Man stelle sich also mal vor, dass zu jedem Gedanken der einem durch den Kopf schießt, man jetzt die passende App suchen muss (von mir aus auch nur auf meinem Smartphone), diese dann aufgeht und mich nach Details fragt, die ich schon hundert mal eingegeben habe? Fühlt sich das gut und richtig an? Nicht wirklich. Bleiben wir aber kurz bei dem Gedanken, was wäre wenn zu jedem Gedanken der richtige und passende “Screen” innerhalb der Brain-App aufgehen würde? Etwas besser. Was wäre, wenn jetzt die Brain-App alles über mich wüsste und ich NIE WIEDER irgendein Feld in dem kontextuellen Screen ausfüllen müsste, den die Brain-App schon weiß? Deutlich besser! Letzteres ist meine naive Vorstellung von WeChat. Selbst bei WeChat reden wir noch über eine Silo-Infrastruktur der einzelnen Mini-Programme. Der Unterschied ist mitnichten, dass diese statt auf einem Homescreen jetzt innerhalb der WeChat App leben, sondern vielmehr, dass die WeChat App meine Identität kennt und diese als Kontext-Klammer rund um die Mini-Programme hält. Damit haben diese Programme – trotz Silo – Zugriff auf eine zentralisierte Datenhaltung und brauchen mich nie wieder mit “dummen” Fragen nerven. Smartphone Betriebssysteme sind dies exakt nicht. Zwar weiß Google sehr viel über mich, macht diese Informationen aber nur sehr spärlich den Android Apps nutzbar. Bei Apple wäre überhaupt nicht daran zu denken – sämtliche Infos in dem Silo verschwinden in Cupertino.
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Photo credit: keso on Visual Hunt / CC BY-NC-ND

Zu Abstrakt? Beispiele.

WeChat ist ja bekanntlich als Messaging Plattform gestartet, d.h. es kennt mich und meine Kontakte, zusätzlich kann ich dort meine Kontodaten hinterlegen und schwups kann ich per Messaging mit meinem Konto sprechen, P2P Zahlungen per Nachricht auslösen oder per “Chat” mit meiner Bank Rechnungen zahlen (keine Online Banking App, P2P App oder ähnliches nötig – 4 Apps weniger). Zusätzlich hat WeChat relativ früh (2015) die sogenannten City Services integriert (in GANZ China!). Darunter subsummiert WeChat Funktionalitäten wie Arzt-Termine buchen, Strom-Rechnungen zahlen, Strafzettel zahlen und (Ö)PNV Tickets. Arzt-Termine sind bei immer noch Chaos (“wie hieß der Arzt? Verdammt wo war der? Hat der auf? Dann anrufen und sich selbst einen Termin in den Kalender stellen”). Strom-Rechnungen zu zahlen ist kein Use Case in Europa, höre ich den einen der anderen sagen – fragt mal bei Barzahlen nach – sehr wohl ein Use Case. Strafzettel bezahlen – das ist MEIN Use Case. Die einzige IBAN (außer meiner eigenen) die ich mir merken kann ist die der Landeshauptkasse Berlin (grummel). Der letzte Use Case ist meines Erachtens einer der Killer Features. Wir reden über (Ö)PNV und das bedeutet nicht nur der lokale Provider (Föderalismus ist so ein Humbug in bestimmten Bereichen) sondern auch sämtlich Car-/Bike-Sharing Dienste und die lokalen Varianten von Uber / Taxi. Dieser letzte Use Case würde auf meinem Smartphone mindestens 7 Apps obsolet machen.
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Photo credit: PhotoAtelier on Visualhunt / CC BY

Intelligent oder kontextuell

Die oben genannten Beispiele sind nur ein Mini-Auszug der Features von WeChat und wir haben dabei zumindest auf meinem Smartphone schon ein dutzend Einzel-Apps obsolet gemacht. Nun kommen wir natürlich zu dem obligatorischen KI (Künstliche Intelligenz) Part. Man stelle sich vor, dass WeChat auch nur ein klitzekleines Bisschen intelligent ist. Ich akzeptiere eine Einladung zu einem Termin, in beispielsweise Köln. Nun kann WeChat mich fragen: “ui da musst du aber hinreisen, willst du jetzt deine Reiseplanung machen?”. Da WeChat holistisch alle Transport-Modalitäten unterstützt, kann ich den Preisvergleich, die Buchung(en) und die Zahlung(en) sofort in der gleichen App machen. Jeder der beruflich viel reist, müsste sich jetzt flehend WeChat herbei wünschen. Nehmen wir ein anderes, etwas “intelligenteres” Beispiel. Es ist gerade Grippe-Saison und ich klicke auf den Arzt-Termin Button in WeChat. Was wäre unsere “normale” Erwartungshaltung? Jap, eine Suchmaske, welchen Arzt wollen sie denn – anstrengend. WeChat könnte mir intelligent den Hausarzt vorschlagen UND die Suche (falls ich mir doch den großen Zeh gestoßen habe). Natürlich könnte das eine intelligente App heute auch schon – tut es aber nicht.
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Photo credit: Steamtalks on Visual hunt / CC BY-NC

Warum eigentlich die Chinesen?

Es ist schon erstaunlich, dass diese Brain- oder SuperApp wie WeChat aus China kommt und nicht, wie so vieles anderes im Technik-Bereich, aus den USA. An Datenschutz-Bedenken oder Bedenken gegenüber der Endnutzer-Privatsphäre kann es ja nicht wirklich liegen. Lag es vielleicht daran, dass es in China eine “grüne Wiese” gab? Eher nicht, denn schließlich war WeChat auch auf den Erfolg der Smartphones angewiesen und somit existierten auch 2011 schon eine Vielzahl anderer Apps für die Nutzer. Auf Android gibt es mit Google Now (das Ding wenn man auf dem Homescreen nach rechts wischt und dann den komisch aussehenden Knopf drückt) eine Art “Übersicht” die einem allerdings nur zeigt, was denn so in den nächsten Tagen los ist. Aber leider ohne irgendeine Möglichkeit Aktionen auszulösen. Selbst in einem reinen Google-Ökosystem (Google Pixel, Google Pay, Google Mail, etc) schafft man es nicht, die WeChat Experience hinzubekommen, weil Google im Gegensatz zu WeChat sich nicht den Aufwand gemacht hat, die meisten dieser Mini-Programme selbst zu schreiben und mit den dahinter liegenden Anbietern zu integrieren. Am Geld kann es dabei nicht wirklich scheitern. Facebook hatte kurzzeitig auch mal Ambitionen mit dem Facebook-Phone eine Art Klammer à la WeChat zu bilden. Rückwirkend muss man wohl sagen “zum Glück” ist das gescheitert. Bisher hat es keiner der großen US-Vier geschafft eine ähnlich nützliche und durchdachte SuperApp auf den Markt zu bringen. Selbst die Smartphone Betriebsysteme sind “fast” genauso intelligent wie beim AppStore Start. Und aus Europa? Lach – genau. Reden wir lieber nicht drüber. Bleibt also nur das Warten auf den Markteintritt von WeChat in Europa, damit Bezahlen auf dem Handy endlich in den Hintergrund verschwindet.

Autor

  • Rafael Otero ist seit mehr als 15 Jahren im Payment- und Banking Bereich tätig. Nach mehreren Co-Founder Rollen im Fintech Bereich u.a. als Co-Founder bei payleven der globalen Kartenakzeptanz-Lösung für KMUs und Co-Founder Voice First – einer Strategie-Beratung / Agentur für Sprachassistenz-Lösungen im Bereich Finanzdienstleistungen, Mobility und VoiceCommerce.

    Seit Anfang 2020 ist er Managing Director bei der Deutschen Bank und dort als Chief Product Officer Teil der Corporate Bank. Rafael ist Business Angel/Board Member im Fintech und DeepTech-Umfeld.

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