In einer Branche, die sich gerne als fortschrittlich präsentiert, zeigt sich in Krisenzeiten ein ganz anderes Bild. Die Entlassungswellen in der Tech- und Fintech-Industrie haben gezeigt, dass die Versprechen von Diversität und Inklusion häufig nur leere Worte sind. Was sich ändern muss.

330.000.

Das ist die Zahl der Entlassungen im Tech-Sektor weltweit, Ende 2022 bis Mitte 2023. Auch 2024 gibt es Massenentlassungen in unserer Branche, allerdings wird nicht mehr so viel darüber berichtet – alles Teil vom “New Normal”. Dabei sind in den USA zwischen Januar und April 2024 bereits über 60.000 Mitarbeitende entlassen worden, unter anderem bei Google, Tesla, Microsoft, Dell, SAP. 

Warum das gerade für unsere Branche ein Problem ist? Nun, im Fintech-Bereich hatten wir mal die Ambition, alles innovativ zu machen, haben uns zukunftsorientiert positioniert, stolz auf unsere Vorreiterrolle im…naja, vor allem schicke Apps für vorhandene Lösungen zu bauen. Und wie geneigte Lesende dieser Kolumne wissen: Innovation braucht Vielfalt.

Die Welle von Massenentlassungen, die in den letzten Jahren durch die Branche gerollt ist, hat deutlich gemacht, dass die Versprechen von Diversität und Inklusion oft nur oberflächlich sind. Denn am häufigsten betroffen von Entlassungen sind Frauen, People of Color und weitere unterrepräsentierte Gruppen. Übrig bleiben Teams, die zu 90% den gleichen Hintergrund mitbringen wie der Vorstand. Diversität findet sich hier maximal in der Verteilung der Sternzeichen.

Die harte Realität der Entlassungen

Frauen machen lediglich 20 Prozent der Tech-Belegschaft aus und sind in Führungspositionen noch seltener vertreten. Diese Unterrepräsentation wird während der Massenentlassungen noch deutlicher: In vielen Fällen sind es die wenigen Frauen und Minderheiten, die als Erste gehen müssen.

In den USA bestätigt eine Untersuchung von Forbes, dass People of Color am stärksten von den Entlassungen betroffen sind. Die Daten zeigen, dass, trotz aller Bemühungen um Diversität, die Realität für viele PoC in der Tech-Branche düster bleibt. Sie sind überproportional von Entlassungen betroffen und haben oft weniger Zugang zu Ressourcen und Netzwerken, die ihnen helfen könnten, neue Stellen zu finden.

“Jaaaa, in den USA ist das ja auch alles ganz anders mit dem Rassismus und so”, möchte der eurozentrische Impuls in uns antworten. Wie sieht das Ganze also bei uns aus? Anders als bei den meisten Banken ist über einige deutsche Fintechs bekannt, dass sie – in Ermangelung eines (starken) Betriebsrats oder Gewissens – das Arbeitsrecht gerne flexibel auslegen. Sozialauswahl? Egal, in dieser Kündigungsrunde lassen wir hauptsächlich die migrantisierten Eltern gehen, die kennen sich mit dem deutschen Kündigungsrecht nicht so aus. Die nicht-europäischen Mitarbeitenden sind erstmal damit beschäftigt, sich um einen Job zu kümmern, damit sie ihre Visa behalten, man nimmt das Risiko von Kündigungsschutzklagen gelassen in Kauf und erhöht dafür nicht mal die Abfindung als Zeichen der Kulanz. Mitarbeitende, die gekündigte Kolleg*innen auf ihre Rechte hinweisen, werden zum Chef gerufen.

Warum die Gruppen,  die ohnehin schon mit systemischen Hürden zu kämpfen hatten, am stärksten getroffen sind, dafür gibt es zwei Gründe:

  1. Der Fokus auf Vielfalt ist in der Branche noch vergleichsweise jung. Entsprechend trifft “Last in, first out” besonders die Diversity Hires, für die man gerade erst einiges an Aufwand betrieben und Kosten verursacht hat, um sie und ihre Skills und Perspektiven zu finden und für das Unternehmen zu begeistern. Hinzu kommt, dass unsere Branche beispielsweise Frauen und weiblich gelesene Personen für Marketing- und Personalrollen prädestiniert, mit die ersten Rollen, die in Krisenzeiten plötzlich nicht mehr so relevant sind wie andere.
  2. Befördert wird – übrigens in allen Branchen, da ist die Finanzbranche ausnahmsweise nicht das Schlusslicht – wer dem bestehenden Managementteam ähnlich ist – in Aussehen und Hintergrund. Frauen, migrantisierte Menschen, People of Color und queere Menschen werden strukturell benachteiligt und haben es schwerer, in diese Positionen zu kommen, sie sind somit in Rollen und Hierarchieebenen, die von Entlassungen als erstes betroffen sind.

Die aktuellen Entlassungen verschärfen diese Ungleichheiten nur noch weiter. Sie haben die ohnehin schon fragile Balance der Diversität in der Tech-Branche weiter destabilisiert. Es entsteht ein Teufelskreis: Weniger Diversität führt zu weniger Innovationskraft und schlechterer Entscheidungsfindung in den Unternehmen, was langfristig auch wirtschaftlich nachteilig ist.

Die Schattenseite der DEI-Strategien

Die jüngsten Entlassungen werfen auch ein kritisches Licht auf die DEI-Strategien der Tech-Giganten. Ein Artikel von SDxCentral analysiert, dass die DEI-Politik vieler Unternehmen oft nicht das halten, was sie verspreche. Die Tatsache, dass gerade die diversesten Teile der Belegschaft während der Entlassungen zuerst gehen müssen, lässt vermuten, dass DEI-Initiativen oft mehr Schein als Sein sind und DEI-Merkmale nicht Teil der Betrachtung bei Entlassungen sind.

Ein Aufruf zum Umdenken

Die aktuellen Entwicklungen sollten ein Weckruf für die gesamte Branche sein. Unternehmen müssen ihre DEI-Strategien überdenken und sicherstellen, dass diese auch in Krisenzeiten Bestand haben. Es reicht nicht aus, Vielfalt und Inklusion nur dann zu fördern, wenn es wirtschaftlich gut läuft. Echte Fortschritte in diesem Bereich erfordern eine tief verwurzelte Verpflichtung, die auch in schwierigen Zeiten nicht aufgegeben wird. Ohne Diversität wird es keinen wirtschaftlichen Erfolg für Unternehmen geben und für viele auch keine Zukunft.

Es ist an der Zeit, dass die Fintech-Branche ihre Selbstgefälligkeit ablegt und sich der Realität stellt. Diversität und Inklusion dürfen nicht nur Lippenbekenntnisse sein, sondern müssen sich in den täglichen Entscheidungen und Strategien der Unternehmen widerspiegeln. Nur so kann die Branche ihrer Rolle als Innovationsmotor gerecht werden und gleichzeitig eine gerechtere und inklusivere Zukunft gestalten. Also das, wozu sich viele dieser “innovativen Player” committen, wenn sie ihr Logo in Regenbogenfarben auf LinkedIn präsentieren (natürlich nur im Juli), bunte Werte rund um Vielfalt auf ihre Website packen und die Charta der Vielfalt unterschreiben. Dann kaufen wir die öffentliche Aussage “Vielfalt ist uns wichtig” dem (komplett weißen, männlichen, 45+, verheirateten) Vorstand nächstes Mal ab. Vielleicht.

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