Niemand ist frei davon, Mythen und ihrem Anspruch auf Geltung zu erliegen. Auch in unserer Banken- und FinTech Blase teilen und wiederholen wir hier und da herrschende Meinungen. Nicht immer halten diese einer tieferen Analyse stand. Lasst uns gemeinsam auf fünf im Markt gängige Überzeugungen blicken und ihre Richtigkeit hinterfragen:
1. Mythos: „Jeder macht Online-Banking – meine Frau, meine Kollegen, meine Freunde, ja sogar mein Vater. Alle sind doch inzwischen im Online-Banking angekommen!„
Richtig ist: immer mehr Menschen erledigen ihre Bankgeschäfte online. Während das 2010 je nach Statistik noch 37 % oder 43 % der Deutschen waren, lag der Wert Anfang 2020 bereits bei 56 % und befeuert durch die Pandemie am Jahresende sogar bei 65 %.
Das bedeutet allerdings gleichzeitig: sogar unter Pandemie-Bedingungen waren Ende 2020 35 % der Deutschen immer noch nicht im Online-Banking angekommen.
2. Mythos: „Man muss doch den global unaufhaltsamen Trend sehen. Da hinkt Deutschland doch seit Jahren hinterher, was die Digitalisierung angeht. Und das wird auch für das Online-Banking gelten. Wir brauchen nur mal wieder länger als alle anderen.„
In der Tat: im EU-Vergleich führt Deutschland die Online-Banking Statistik nicht an. Die Vorreiter-Rollen haben andere Länder übernommen: Island, Dänemark, Norwegen und Finnland lagen 2020 bei über 90 % Nutzung. Deutschland ist aber keinesfalls komplett abgeschlagen, sondern landet im soliden Mittelfeld. Denn mit Blick auf die gesamte EU erledigen 42 % der Europäer ihre Bankgeschäfte noch offline.
Und auch die US-Amerikaner liegen bei einer mit der deutschen “EU-Mittelfeld-Quote” vergleichbaren Online-Banking Nutzung. Auch sie sind also keinesfalls viel weiter als wir.
3. Mythos: „Aber das betrifft ja nicht meine Generation bzw. schon gar nicht die Digital Natives. Nur alte Menschen sind nicht im Online-Banking und der typische Filialkunde stirbt somit ohnehin aus.„
Fakt ist: Filialen sterben aus. In Deutschland hat die Filialdichte allein zwischen 2017 und 2020 um 25 % abgenommen. Und in der EU wird bis 2023 mit weiteren 40 % Filialabbau gerechnet. Der Markt schafft durch seine Annahmen und mit Verweis auf einen anhaltenden Kostendruck eigene Fakten. Und das bevor weit mehr als ein Drittel der Bankkunden bereit für diese Entwicklung ist.
Auch richtig: Die Online-Banking Nutzung nimmt statistisch mit zunehmendem Alter ab.
Dabei werfen die meisten Statistiken allerdings Menschen mit 60 in den gleichen Topf, wie Menschen mit 95. Dadurch lassen sich Zusammenhänge schlechter herleiten.
Das reine Alter ist nicht alles
Denn wo fängt überhaupt eine allgemeingültige Definition von alt an? Zu kurz gedacht ist, dass nur Menschen jenseits der 60 sich scheuen, Kontoumsatz-Prüfung und Überweisungen online zu erledigen. Die Abnahme der Nutzung beginnt wesentlich früher und schwankt zudem zwischen den Altersgruppen. Je nach Statistik nutzen immerhin 40 % der Menschen zwischen 50 und 59 Jahren ebenso kein Online-Banking. Zum anderen nutzen auch 31 % (!) der 30 bis 39 Jährigen in Deutschland kein Online-Banking. Das ist fast ein Drittel meiner eigenen Generation. Und hier besteht nach jüngsten Statistiken sogar eine breitere Ablehnung als in der Altersgruppe zwischen 40 und 49. Nicht zuletzt haben sich immerhin auch 17 % (!) der Digital Natives bisher gegen Online-Banking entschieden.
Das Alter mag somit eine wesentliche Rolle spielen, kann allein aber wiederum nicht maßgeblich sein. Auch soziologische Aspekte sind zu beachten. Die digitale Spaltung unserer Gesellschaft fußt nachweislich auch auf Einkommens- und Bildungsunterschieden. So stellte die Bertelsmann Stiftung jüngst bei genauerer Analyse von Daten aus dem Jahr 2019 und dem Jahr 2021 fest: digitale Spaltung zeigt sich entlang der Faktoren, Alter, Bildungsgrad und Haushaltseinkommen. Sowie, dass ein Pandemie bedingter Digitalisierungsschub bei der breiten Bevölkerung ausgeblieben ist.
4. Mythos: „Könnten die Ergebnisse nicht auch an Geschlechterunterschieden liegen. Sicher kümmert sich häufiger der Mann um die Finanzen in der Familie, d.h. die befragten Frauen verzerren dann die Statistik, weil der Mann sie quasi in einem Haushalt mit Gemeinschaftskonto abdeckt.“
Richtig ist in der Tat, dass sich beim Thema Finanzen oftmals ein Partner auf den anderen verlässt. Aber ein klares Nein zur Annahme, dass diese Verantwortung immer beim Mann liegt. Es gibt diverse und weit verbreitete Lebenssituationen, in denen es umgekehrt ist. Schauen wir nur auf ein paar Beispiele:
In der Landwirtschaft steht traditionell – mit einer Quote von über 80 % – der Bauer auf dem Feld, während die Frau die Verwaltungsaufgaben übernimmt. Die Landfrau wurde somit zur Finanzverantwortlichen und ist wesentlich digitaler als der Mann. Auch in Familien, in denen der Mann klassischerweise – mit einer Quote von fast 90 % – im Handwerk tätig ist, kümmert sich eher die Frau um die Verwaltung der gemeinsamen Finanzen. Denn Frauen sind nachweislich mehrheitlich in Büro- und Dienstleistungsberufen tätig. Diese Tätigkeiten fördern eine stärkere Auseinandersetzung mit digitalen Lösungen.
Selbst als Finanzminister hatte Olaf Scholz vor wenigen Jahren keine Scheu zuzugeben, noch nicht im Online-Banking angekommen zu sein. Vielleicht hat auch hier die Frau mehr Muße sich nach Feierabend um die Privatfinanzen zu kümmern. Denn oft übernimmt einfach die Person, die dabei weniger Belastung empfindet. Der andere gewöhnt sich einfach über die Zeit daran.
5. Mythos: „Diejenigen, die heute noch nicht im Online-Banking sind, werden das auch nicht mehr lernen.„
Fassen wir nochmal zusammen: die größte Gruppe, die noch nicht im Online-Banking ist, sind Männer und Frauen ab 50. Die Unterschiede in dieser riesigen Altersgruppe sind jedoch vielfältig. Während nicht wenige Mittfünfziger Neobanking- und Trading-Apps nutzen, stehen die Elterngenerationen ab Mitte 70 schon mehrheitlich vor großen Herausforderungen bei der Digitalisierung. Und dass eine 85-jährige Bürokauffrau im Ruhestand begeistert ihr Online-Banking bedient, bedeutet nicht zwingend, dass ein 45-jähriger Landwirt digital darauf vorbereitet ist, seine Filiale zu verlieren.
Wichtig ist, zu verstehen, dass wir selbst mit den digitalen Schwächen unserer Familienmitglieder die geringste Geduld haben. Wir neigen dazu, Tablet, Smartphone oder PC der Eltern in die eigenen Hände zu nehmen und Dinge für sie einzurichten, statt ihnen “on the job” und Schritt für Schritt die Bedienung digitaler Angebote zu erklären. Erfolgsgefühle bleiben so auf der Strecke und allein der bequemeren “darum kümmern sich meine Kinder, wenn sie das nächste Mal da sind”-Alternative vorbehalten. Wir sind also oft die falschen Lehrenden.
UI und UX Lösungen müssen immer wieder angepasst werden
Auch fällt jedem von uns mindestens eine App oder Plattform ein – von Youtube über WhatsApp bis Instagram, Rezepttool oder Online Game – für die uns nie jemand um Hilfe bat. Warum eigentlich? Weil sich auch weniger technikaffine Menschen spielerisch und durch Spaß am Use Case den Umgang damit allein erschließen. Können wir daher tatsächlich behaupten, dass “das Problem” immer vor dem Gerät sitzt? Könnten nicht auch das Online-Angebot bzw. die Nutzerführung die eigentlichen Hürden sein? Insbesondere im Banking? Schließlich verzweifelt hier auch der ein oder andere Experte an so mancher 2-Faktor Einrichtung.
Und Überraschung: wir alle werden älter! Spätestens wenn nicht mehr wir von Web3 und andere vom Web5 sprechen, werden unsere eigenen kognitiven Fähigkeiten beschränkt sein. Ein voller Lebenszyklus erfordert gerade im rasanten digitalen Wandel ab einem bestimmten Alter auf uns angepasste UI und UX Lösungen, um uns weiterhin ein Sicherheitsgefühl zu vermitteln. Und gerade im Banking haben Menschen im hohen Alter schon lange vor der Digitalisierung die Verantwortung für die Finanzen an ihre Kinder abgegeben, weil sie selbst oder die Familie irgendwann Sorge vor Fehlern empfinden. Aber muss dies bedeuten, komplett finanziell fremdbestimmt zu werden? Können wir uns dieses Szenario denn für uns selbst vorstellen? Angepasste, digitale Lösungen wird es also in jedem Fall für uns alle und langfristig brauchen.
Über die Autorin:
Cornelia Schwertner arbeitet als Gründerin und CEO von Brygge an ihrer Startup-Idee, Digital Finance und Social Impact zu verbinden. Brygge entwickelt eine Open Banking basierte, intuitiv bedienbare Brücke zu jeder Hausbank für Menschen 55+, die allein oder im Tandem mit der Familie nutzbar sein wird. Bis März 2021 war Cornelia als Geschäftsführerin und Chief Risk Officer bei finleap connect (vormals: figo) sowie als Vice President der European FinTech Association tätig.