Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und dort auch noch das Mekka – die Westküste, das Silicon Valley. Wenn die Welt von irgendwoher etwas erwarten kann, darf, muss – dann von dort. Der Fortschritt des 20. Jahrhunderts wurde dort geboren. Alles was disruptet wurde – kam aus dem Valley. Superlative über Superlative.
Wir machen einen Realitycheck – ungeblendet von der Innovationsfähigkeit der GAF’s (Amazon ist ja in Seattle). Wie sieht das tägliche Leben aus? Und hat sich da wirklich so viel geändert über die letzten 10 Jahre?
Einige Beobachtungen aus den vergangenen Jahren/Reisen in das Tech-Mekka:
Kein Mensch macht Mobile Payment
Jahre nach der Einführung von Chip und PIN und nach den “Innovations-Bomben” Apple Pay, Google Pay und wer-nicht-sonst-noch-Pay ist Mobile Payment im Straßenbild immer noch nicht angekommen. Wenn sich eins geändert hat, dann die Verlagerung von Kredit-Karte zu Debit-Karte. Inzwischen hat auch der gemeine Amerikaner verstanden, dass man mit der Debit-Karte auch bezahlen und nicht nur Geld am Automaten abheben kann.
NFC und damit die Akzeptanz von “Alles und Deine Mutter”-Pay ist eigentlich gegeben, allerdings wird an der Kasse immer noch gern die Karte einfach “durchgezogen” und man soll dann unterschreiben. In den größeren Ketten kommt es dann doch schon häufiger vor, dass man per Chip & PIN zahlen soll. Und damit man bei den langsamsten Kartenzahlungen seit Menschengedenken dann nicht einpennt (eine Zahlung dauert im Schnitt locker 10sek), fängt das Terminal an, einen grausamen Alarmton von sich zugeben, wenn man die Karte immer noch im Chip-Slot drin lässt.
Seit Einführung von Apple Pay kann ich mich persönlich nicht daran erinnern, auch nur jemals eine Seele gesehen zu haben, die damit an der Westküste gezahlt hat. Wenn man selbst mal per NFC zahlen will, kommt es zu z.T. abstrusen Situationen, wie z.B. zusätzlich noch unterschreiben zu müssen. Sternchen-Pay und Square NFC Dongle hin oder her. Mobile Payment findet nur in den Outlets mit den chinesischen Touristen statt.
Alles viel zu teuer
500 $ für ein “Motel One” – ok Google Konferenz, aber hey. Das Silicon Valley findet ja leider nicht mehr nur im Silicon Valley statt. Erkannte man vor einigen Jahren die Nerds nur daran, dass sie in den tollen silbernen Reisebussen mit verdunkelten Fenstern saßen und man kurzzeitig das Google-Wifi im Stau nutzen konnte, während besagter Reisebus neben einem im Stau fuhr, sind die “Start-Ups” und Tech-Unternehmen inzwischen in der Stadt angekommen. Noch vor wenigen Jahren musste man zu den Top 5% der Mitarbeiter gehören um überhaupt daran denken zu dürfen, einen Sitzplatz in einem der San-Francisco-Büros zu ergattern. Heutzutage hat man das Gefühl, dass jeder in einem der hippen Stadt-Offices arbeitet.
Das Ganze geht zu Lasten des “Normalbürgers“ – Die Gentrifizierung (“Wo ist eigentlich der amerikanische Schwabe?”) und die daraus resultierende Armut, lassen sich an zwei Stellen der Stadt besonders deutlich erkennen.
Beispiele: Market Street & Castro
Vor wenigen Jahren war die Market Street noch durch folgende Reihenfolge gekennzeichnet: City Hall (Rathaus), Civic Center (Crack Central), Start-Ups (Twitter, Square, Uber, etc.), Retailer, Banken, Embarcadero. In der Zwischenzeit hat sich die Reihenfolge wie folgt verändert: Crack Central (City Hall bis Retailer), Start-Ups (wenige dort wo Twitter früher residierte) und Banken wurden ersetzt durch Tech-Unternehmen (Google und Konsorten).
Nicht viel besser sieht es im traditionsreichen Castro Viertel aus. Das Castro war und ist das LGBTQ-Viertel und wie es sich gehört damit vielfältig, alternativ und kreativ. Heutzutage sind die Kreativen aber ausschließlich gut gekleidete und betuchte Tech-Nerds. Vom klassischen alternativen Flair sind nur die veganen Shops übrig geblieben. Der Tech-Reichtum hat die Stadt unbezahlbar für den Großteil der Einwohner gemacht. Wenn man irgendjemanden in einem Geschäft nach Auskünften über die Umgebung fragt, kommt ausnahmslos “Sorry ich arbeite hier nur, ich komme aus (Stadt in 2-3h Entfernung)”.
Mobilitätskonzepte a la SV
Das einzige, was im Straßenbild auffällt: der eScooter. Er hat sich durchgesetzt – zumindest im Moment und wenn er nicht im Baum hängt. Mit dem Scooter umgehen, das können allerdings die Wenigsten. Was sich nahtlos ins Autofahren übertragen lässt. Amerikanische Straßen sind nicht unbedingt dafür bekannt, die engsten Straßen auf diesem Planeten zu sein.
Dennoch schaffen es die Hipster auf den Scootern immer wieder, auch den geduldigen, rücksichtsvollen, amerikanischen Autofahrer auf die Palme (oder zur Vollbremsung) zu bringen. “Abgestellt” werden die Scooter gern einfach irgendwo oder quer über den Gehweg liegend, was sich dann in der mittleren Lebensdauer dieser Roller widerspiegelt. Mehr als 20 Tage überleben diese Geräte den Einsatz mit dem amerikanischen Konsumenten nicht.
Immerhin gibt es jetzt auf den meisten Straßen auch einen Fahrradweg und diese sind inzwischen nicht ausschließlich mit Mamils (https://en.wikipedia.org/wiki/Mamil) bevölkert. Trotz der vielen Initiativen: Das Kernproblem der Mobilität ist nicht gelöst. Der Stau. Die 101 am frühen Morgen ist und bleibt eine Katastrophe. Öffentlicher Nahverkehr ist und bleibt etwas für “arme Leute”, die sich selbst das billigste Auto nicht leisten können oder wollen.
GASTRO als Spiegelbild der Gesellschaft
Starbucks hat sich über die letzten zehn Jahre gefühlt nicht geändert. Es zieht immer noch durch die Tür. Und das Publikum um 5am (ja, der Jet Lag) trägt nicht unbedingt die “Haute Couture” (Ballon-Seide lässt grüßen). Meinen Namen muss ich immer noch buchstabieren (er wird in der Regel dennoch falsch geschrieben) und in den zwei Stunden vor Ort rumlungernd, habe ich keinen gesehen der Remote per App bestellt und seinen Kaffee einfach abgeholt hat – trotz Schlange.
Wo ist die vielgepriesene Starbucks-App in der Realität? Mobile Payment haben wir schon erwähnt. Immerhin erscheint das Starbucks-Logo auf dem Terminal.
Gleiches gilt im Hipster-Sushi-Laden um die Ecke. Alles irgendwie 90er. Oder auch 80er. Wäre a fast schon wieder cool. Vielleicht sind wir alle verwöhnt oder erwarten zu viel.
„Wo ist die vielgepriesene Starbucks-App in der Realität?“
Persönlich war ich von Shanghai im November 2018 deutlich mehr beeindruckt. Es pulsierte. Der Drive und die Innovation waren spürbar. Ob das Valley deswegen “tot” ist? Auf keinen Fall. Man darf nur nicht alles über einen Kamm scheren. Die “Downsides” sind offensichtlich und nicht jeder ist Teil der globalen Wachstumstories sowie der Allmacht der GAF(A)’s. Das Valley wird sicherlich zurückkommen in einer weiteren Iteration. Abe: überschätzen wir es nicht. Selten ist so groß wie es scheint. Und das nächste GAFA gibt es schon irgendwo. Ob in einer Garage oder der russischen Tundra – das bleibt offen.