Gastbeitrag von Christian Crain
Banken und Versicherungen erschließen sich durch die Nutzung automatisierter Bewertungsmodelle (AVM – Automated Valuation Model) viele Chancen und zahlreiche Optimierungs- und Einsparpotentiale.
Die Bewertung von Immobilien für die Vergabe von Immobilienfinanzierungen basiert auf normierten Verfahren. Diese werden primär durch Vor-Ort-Besuche von Gutachtern und die Erhebung und Verarbeitung analoger Daten durchgeführt. AVM erfordern angesichts der Novellierung der EBA-Leitlinien jedoch eine konsequente Nutzung digitaler Technologien und Vorgehensweisen. Die Europäische Bankenaufsichtsbehörde, EBA, überarbeitete 2020 ihre Leitlinien zur Kreditvergabe und -überwachung. Erstmals wurden Anforderungen an digitale Lösungen aufgenommen, die die Nutzung von statistischen Modellen bei der Bewertung von Immobilien ermöglichen.
Voraussetzung für den sinnvollen und kosteneffektiven Einsatz ist allerdings, dass Finanz- und Assekuranzunternehmen auch über eine entsprechende digitale Infrastruktur verfügen bzw. diese zeitnah einrichten. Insbesondere die traditionsbewussten Bereiche Kreditvergabe und -überwachung würden durch die Einführung digitaler Statistik-basierter Lösungen erheblich profitieren.
Digitale Immobilienbewertung als Zukunftspotential
Bisher hat man diesbezüglich fast ausschließlich auf Sachwert- und andere Bewertungsverfahren sowie Gutachter oder Sachverständige zurückgegriffen. Bei komplexen Immobilien oder Objekten, die nicht wohnwirtschaftlich genutzt werden, ist diese Praxis wohl auch noch weiterhin unabdinglich.
Bei standardisierbaren Wohnimmobilien bieten digitale Immobilienbewertungen allerdings erhebliches Optimierungspotential, das heute schon umfassend genutzt werden kann. Digitale automatisierte Bewertungsmodelle befinden sich bereits seit ca. 15 Jahren im Einsatz. Stetig wachsende digital verfügbare Datenmengen, leistungsfähige Prognosealgorithmen und eine durch Cloudcomputing unbegrenzte Rechenleistung und Speicherkapazität sorgen dafür, dass digitale AVMs in den vergangenen Jahren einen enormen Leistungssprung machen konnten.
Die Entwicklung treiben sowohl einige zukunftsorientierte Institute – aber eben auch federführend hochinnovative „ImmoTechs“ – voran.
Chancen: Diversifiziertere Bewertungsmöglichkeiten und Operationalisierung
Die stetig wachsende Leistungsfähigkeit von AVMs basiert auf dem konsequenten Einsatz künstlicher Intelligenz und ausgereifter Algorithmen. Auf Basis von Big Data Analytics können neben den traditionellen Eigenschaften nun auch nachgewiesen preisbeeinflussenden Eigenschaften einbezogen werden. Das sind beispielsweise Erreichbarkeit, Lärmbelastung, Sonnenscheindauer, Aussicht, Soziodemografie und Bauvorhaben in der Umgebung oder Infrastruktur. Diversifizierten Bewertungsparameter einer Immobilie lassen für jede Wohnimmobilie an jedem Standort den statistisch wahrscheinlichsten Markt- und Mietpreis ermitteln. Aktuell können dabei bereits Bewertungsgenauigkeiten mit einer Abweichung von 5 bis 15 Prozent garantiert werden.
Die datenbasierte Aufarbeitung der Bewertung schafft neben Transparenzzuwachs auch effizientere Möglichkeiten für Banken und Kreditinstitute, fortlaufend aktuell abrufbare Informationen zu den von ihnen finanzierten Immobilien bereitstellen zu können. Ein AVM ist imstande, neueste Informationen und Veränderungen transparent und in Echtzeit abzubilden. So entstehen für die Kreditinstitute auch neue Überwachungsmöglichkeiten von Bestandskrediten. Blicken wir auf die aktuelle Beleihungswertverordnung (BelWertV) und ihrer zugrundliegenden Bewertungsverfahren, werden u.a. Parameter wie Bodenrichtwert und Herstellungskosten der Immobilien genutzt.
Faktoren können korrigiert werden
Die Ergebnisse können teilweise noch durch einen Marktanpassungsfaktor korrigiert werden. Hier kommt es aktuell noch immer dazu, dass viele weitere Faktoren wie die wirtschaftlichen Veränderungen am Standort oder der Anstieg von Baukosten nur unzureichend berücksichtigt werden. Herstellungskosten zur Zeit der Kreditvergabe entsprechen nicht mehr den tatsächlichen Kosten – dementsprechend wird die Immobilie im Wert nicht dem wirklichen Marktpreis gerecht.
Ein AVM kann diese Veränderungen allerdings tagesaktuell abbilden und sorgt damit für deutlich konservativere Werteermittlungen, die Banken in zweierlei Hinsicht unterstützen. Umso genauer die Werte einer Immobilie zur Kreditvergabe in Form einer Pre Due Diligence und während der Kreditüberwachung erfasst werden können, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, Ausfallrisiken in die Bilanz aufzunehmen oder weiter zu halten.
Herausforderungen: ESG, Infrastruktur und eine zu konservative Perspektive
Bei zu konservativen Bewertungen, die den tatsächlichen Marktpreis unterschätzen, laufen Banken Gefahr, ein lohnendes Kreditgeschäft voreilig abzulehnen. Mittlerweile wird ein weiterer Faktor in der Immobilienbewertung immer wichtiger: ESG (Environment, Social, Governance Anlagekriterien). Hier steht die Branche noch vor vielen Herausforderungen und unbeantworteten Fragen. Klar ist, dass das größte Problem bei der Bewertung die Verfügbarkeit ESG-relevanter Daten ist. Diese sind – wenn überhaupt – meist nur dezentral abrufbar. Dementsprechend muss eine leistungsfähige digitale Infrastruktur vorgehalten werden, um sowohl die stetig wachsenden preisbeeinflussenden Daten (siehe oben) als auch die ESG-bezogenen Informationen erheben, verarbeiten und analysieren zu können.
Über den Autor
Christian Crain ist seit 2018 Co-Geschäftsführer der PriceHubble Deutschland GmbH. Davor war er bei MoneyPark sowie bei der Interhyp Gruppe tätig.
Quelle Headerbild: AndreyPopov (istockphoto.com)