Das Fintech Nelly bietet seit Oktober in Zusammenarbeit mit der Vereinigten Volksbank aus dem Odenwald Factoring für gesetzlich Versicherte an. Dabei ist der Markt bereits hart umkämpft.
Für Nelly könnte es gerade nicht besser laufen: Im Sommer expandierte das Fintech für den medizinischen Bereich gemeinsam mit Adyen nach Italien, im Oktober verkündete Nelly dann eine Partnerschaft mit der Vereinigten Volksbank Raiffeisenbank (VVRB) aus Reinheim in Hessen. 100 Millionen Euro stellt die Bank dem Fintech für sein neues Produkt bereit. Dementsprechend selbstbewusst gibt sich auch Niklas Radner, Mitgründer und Geschäftsführer von Nelly. Nach den Zielen seines Start-ups gefragt, antwortet er: „Wir wollen das größte Fintech im medizinischen Bereich in ganz Europa werden.“ Doch kann dieses Ziel aufgehen?
Die Idee, auf die Medizinbranche zu setzen, hatte das aus Radner, Lukas Eicher, Rasmus Schults, Laurids Seibel und Tobias Heuer bestehende Gründerteam bereits 2021. Das zweite Jahr der Corona-Pandemie hatte ihre Aufmerksamkeit auf den medizinischen Sektor gelenkt. „Wir haben uns die veralteten Prozesse von Arztpraxen genau angeschaut und eine riesige Chance für Innovation gesehen“, sagt Radner. Ein halbes Jahr lang sprachen sie mit Experten, um die Prozesse und Bedürfnisse der Praxen besser zu verstehen. Radner selbst arbeitete dafür eineinhalb Monate in einer Zahnarztpraxis in Duisburg mit. Im August 2021 gründete das Fünfer-Team dann Nelly und baute eine Patientenverwaltungs- und Finanzplattform für Arztpraxen auf. Mit ihr können Praxen alle Dokumente wie Anamnese- oder Aufklärungsbögen, die häufig noch auf Papier ausgefüllt werden, digital von den Patientinnen und Patienten ausfüllen lassen und über die Software verwalten. Das spart Zeit und Papier. Über 1.200 Arztpraxen mit mehr als 1,7 Millionen Patientinnen und Patienten nutzen laut Radner das Angebot des Fintechs bisher.
Nun erweitern sie ihren Plan. Factoring ist das nächste große Ding bei Nelly. So sollen Praxen über die Plattform ihre offenen Forderungen gegenüber den gesetzlichen Kassen an die VVRB verkaufen und werden innerhalb von 24 Stunden abzüglich einer Gebühr ausbezahlt. Doch braucht die Branche das wirklich?
Gründer Radner ist davon überzeugt. „Mit der neuen Factoring-Lösung für Forderungen von Kassenärztlichen Vereinigungen ermöglichen wir Arztpraxen einen besseren Zugang zu Liquidität“, sagt er. Denn durch die Abrechnungspraktiken der Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen könnten Finanzierungslücken bei den Arztpraxen entstehen. So könne es bis zu neun Monate dauern, bis die Kassen Rechnungen für eine Behandlung prüfen und das Geld an die Praxen überweisen. „Gerade für junge und wachsende Unternehmen, die sich noch keinen Puffer aufgebaut haben oder expandieren wollen, kann das zu Finanzierungsschwierigkeiten führen“, so Radner. Schließlich müssten die Praxen trotzdem monatlich ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bezahlen.
Nelly ist schon länger im Factoring-Geschäft aktiv, auch Privatversicherte und Selbstzahler können das Angebot nutzen. Dazu arbeitet das Fintech mit der Varengold-Bank zusammen. „Nelly verfügt über Kooperationen mit verschiedenen Banken und tritt im Rahmen des gemeinsamen Angebots als Dienstleister für die Partnerbanken sowie als zentraler Ansprechpartner für die Praxis auf“, sagt Radner. Daher braucht Nelly auch keine eigene Bafin-Lizenz.
Factoring ist ein hart umkämpfter Markt
Wie Nelly daran genau Geld verdient, will Radner nicht verraten. Vermutlich bekommt das Fintech eine Vermittlungsprovision von den Partnerbanken, die dann als Teil der Factoringgebühr bei den Kunden abgerechnet wird. Dazu sagen will Radner nichts. „Für die Partnerbanken dürfte sich das trotzdem lohnen, weil sie ohne weiteren Vertriebsaufwand an Kunden kommen, an die sie normalerweise nicht kommen würden“, erklärt dafür Nikola Jelicic, Leiter des Payment-Bereichs bei der Unternehmensberatung Zeb. Die Banken könnten dann den Kunden weitere Dienstleistungen anbieten. Haben sie Erfolg damit, könnten sie Nelly zusätzlich eine Art „Good Will“-Provision zahlen. „Für die Kunden lohnt sich das ebenfalls, weil sie bequem und ohne wenig Aufwand an Liquidität kommen“, sagt Jelicic.
Die Niedrigschwelligkeit des Angebots dürfte dabei auch Nellys Alleinstellungsmerkmal auf dem hart umkämpften Markt für Factoring-Lösungen sein. Die Software des Fintechs ist wie ein „All-You-Need“ für die Verwaltung von Arztpraxen. „Der Markteintritt lohnt sich für neue Player, wenn sie branchenspezifisches Wissen mitbringen und ihr Angebot gut in bestehende Systeme integrieren können“, sagt Jelicic. Denn es gibt schon dutzende Factoring-Unternehmen, die sich auf den medizinischen Bereich fokussiert haben. Zu ihnen gehören zum Beispiel die PVS Holding und Noventi Healthcare mit Fokus auf Apotheken. Der Deutsche Factoring Verband beziffert den Anteil des Gesundheitswesens am Factoring-Aufkommen seiner 44 Mitgliedsunternehmen für 2023 auf 15 Prozent. Nur im Handel kommt die Methode noch mehr zum Einsatz. Er trägt zu 21 Prozent zum Aufkommen bei.
Dennoch müssen Anbieter offenbar Aufklärungsarbeit bei ihren möglichen Kunden leisten. Der Virchowbund, der Verband der niedergelassenen Ärzte, schreibt auf Anfrage, dass ihnen die Möglichkeit von Factoring für gesetzlich Versicherte nicht bekannt sei. Nelly sollte dennoch keine Probleme haben, das neue Produkt bei den Kundinnen und Kunden bekannt zu machen. „Unsere Praxen bekommen im Kontakt mit uns davon mit, wodurch wir auch auf individuelle Bedürfnisse eingehen können“, sagt Radner.
Auf Expansionskurs
Das Fintech möchte jetzt vor allem erstmal auf Expansion setzten. Der Eintritt in den italienischen Markt soll da vormachen, wie es gehen kann. „Italien ist einer der größten Märkte in Europa, hat viele Selbstzahler und ähnliche Probleme mit der Bürokratie wie die Praxen in Deutschland“, so Radner. Allein 50.000 Zahnärzte gibt es laut seiner Aussage in Italien. Da müsste also was zu holen sein.
Und weitere Länder sollen laut Radner folgen, wenngleich er noch nicht sagen möchte, welche. Nach Einschätzung von Unternehmensberater Jelicic lohnt sich Factoring vor allem in Märkten mit vielen Kleinunternehmen, hohem Bargeldanteil und niedriger Liquidität. Daher könnten weitere südeuropäische Länder wie Spanien ein attraktives Ziel sein.