Wenn dein Gehirn nicht Windows oder Mac ist: Neurodivergenz im Finanzsystem

Porträt von Beccs Runge

Das Finanzwesen ist nicht neutral, es bevorzugt neurotypische Denkweisen – für viele andere wird es unnötig kompliziert und teuer. Warum Banken umdenken sollten.

Stell dir vor, du versuchst ein Apple-Gerät mit etwas zu verbinden, das nicht von Apple ist. Genau so fühlt es sich an, neurodivergent in einer Welt zu leben, die auf neurotypische Menschen zugeschnitten ist. Dein Gehirn läuft auf einem anderen Betriebssystem. Kompatibilität ist möglich, aber schwierig.

Unter das Spektrum der Neurodivergenzen fallen verschiedene Diagnosen, mehr dazu könnt ihr in diesem Beitrag lesen.

Neurodivergenzen sind also vielfältig: Wer eine Person kennt, kennt genau diese eine – und nicht alle. Deshalb werde ich mich auf drei Neurodivergenzen und die Erfahrungen im Finanzwesen beschränken: Autismus, ADHS und Dyskalkulie (das ist, wenn dein Gehirn Zahlen und Rechnungen anders verarbeitet).

Autistische Menschen werden auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt

Es gibt mehr Studien darüber, wie viel eine autistische Person die Gesellschaft kostet, als es zur Unterstützung von Autist*innen im Bankwesen gibt.Studien zum subjektiven Wohlstand autistischer Menschen existieren wiederum gar nicht.

Was es jedoch gibt: Anzeichen dafür, dass autistische Menschen häufig unterqualifizierte Arbeit angeboten bekommen oder arbeitslos sind. Und das ist definitiv schlecht fürs Bankkonto.

Kaum Hilfe für Menschen mit ADHS

Ebenfalls schlecht fürs Bankkonto ist ADHS – aber aus anderen Gründen. Das liegt unter anderem an der sogenannten ADHS-Steuer: Impulskäufe, Mahngebühren, Inkasso-Forderungen, vergessene oder verlorene Gegenstände und weiterlaufende Abos gehören bereits zur Grundausstattung. Darüber werden Menschen mit ADHS zwar informiert – leider passiert das meist auf Basis von „hast du schon mal eine Excel-Tabelle und ein Haushaltsbuch probiert”, was zur individuellen Verantwortung (und Überforderung) beiträgt.

Schusseligkeit und Vergessen sind Symptome davon, dass das Gehirn mehr Reize auf einmal verarbeitet, aber nicht alle davon gleichzeitig behalten kann. „Sich zusammenreißen“ oder „einfach mal dran denken“ sind deshalb keine hilfreichen Vorschläge.

Die Impulskäufe sind ein Symptom der Dopamin-Verarbeitung eines ADHS-Gehirns. Aus den gleichen Gründen sind Menschen mit ADHS häufiger von Suchterkrankungen betroffen.

Für viele Betroffene bleiben oft nur zwei Reaktionen: Scham – und das Gefühl, allein verantwortlich gemacht zu werden

Scham darüber, nicht mit Geld umgehen zu können. Scham darüber, dass wieder Mahngebühren, Abos oder Inkasso-Mahnungen ins Haus flattern. Gleichzeitig Werbung für Kredite, die „alles einfach lösen“ würden. Das verführerische Lächeln eines Dispokredits. Kreditkarten, deren Abrechnung erst am Monatsende kommt – dann aber dicke.

Wer sich Hilfe sucht, landet auf Seiten, die mit einfachen Tipps helfen sollen/wollen. Meistens endet diese Information darin, dass sich Menschen besser organisieren sollten. Oder darin, ob sie es schon mal mit Daueraufträgen oder Lastschrifteinzügen versucht hätten (beides kann ein Konto sehr schnell ins Minus treiben, wenn es nur einmal im Jahr kommt, dann aber unvorhergesehen).

Was dabei übersehen wird: Die neurodivergente Hirnverdrahtung gibt diese Formen der „Lösungen“ nicht vor. Ein Haushaltsbuch muss regelmäßig geführt werden, ein Tagesgeldkonto verstanden werden.

Banking für neurodivergente Kund:innen selten barrierefrei

Wenn dann noch die Zahlen im Kopf Tango tanzen, führt das im Zweifelsfall zu noch mehr Kuddelmuddel – und die Wahrscheinlichkeit, eine Neurodivergenz zu haben, ist höher, wenn noch eine andere Neurodivergenz besteht. (Die Kombi ADHS und Dyskalkulie ist vergleichsweise häufig und somit sind die Finanzen ein Chaos, das balanciert und ignoriert, nicht aber beherrscht wird.)

Banken werben mit Lösungen – auf eine Art und Weise, die viele neurodivergente Menschen überfordert. Beratungen sind soziale Situationen, die ebenfalls mit sozialen Normen einhergehen – was bei autistischen Menschen zu Stress und Vermeidungssituationen führen kann.

Die Priorisierung, in welchem Bereich eine Beratung benötigt wird, kann bereits auf der Website oder in der Filiale zu Überforderung führen: Woher sollen Menschen wissen, welche der unterschiedlichen Service-Stellen zuständig ist? Gerade wenn es um die Trennung eines Geschäftskontos von einem Privatkonto geht, wirken die Zuständigkeiten von außen identisch. Um dann vor Ort zu hören, „da können wir Ihnen nicht helfen, sie müssen in die nächste Großstadt fahren“ (um auch dort niemanden zu haben, der helfen kann).

Wie kompliziert das ist, habe ich, gemeinsam mit meinem Team, schon selbst erfahren müssen. Wir brauchten ein neues Geschäftskonto. Wir haben bei zwei Menschen einmal Autismus und einmal ADHS plus Dyskalkulie. Unser letzter Kontowechsel war pures Chaos – obwohl wir einen Kontowechsel-Service beauftragt hatten. Während die Bank vor allem mit „wir kümmern uns um alles” warb, flatterte dann einige Wochen später ein dicker Brief voller Vordrucke ein, die wir selbst den (manchmal per Adresse zugeordneten, manchmal nicht) Stellen, Personen, Firmen und Organisationen schicken sollten. Zusätzlich noch eine autistische Person, die beim Video-Ident mit unklaren Anweisungen konfrontiert und entsprechend überfordert war.

Wenn ich händisch die letzten zwei Jahre meiner Kontobewegungen überprüfen muss, um einschätzen zu können, ob hier eine Information über den Kontowechsel notwendig ist, ist der „Service” diesbezüglich überschaubar. Vom produzierten Altpapier für alle Stellen, bei denen keine Adresse ermittelt werden konnte, ganz abgesehen. 

Was neurodivergtenen Menschen helfen kann

Hier hätte ich mir ein Formular gewünscht, das mir (ähnlich wie meine Buchhaltungssoftware) Vorschläge gibt, was passend sein könnte und davon ausgehend dann die Vordrucke erstellt. So gab es organisatorisches Chaos, mehrere SEPA-Mandate, die dreimal geändert werden mussten und einige Lastschriftaufträge, die weiterhin versuchten, von einem geschlossenen Konto Geld einzuziehen (und die daraus entstehenden Gebühren). Service? Sieht anders aus. 

Gerade autistische Menschen benötigen häufig Routinen und Kontrollen – und im Finanzwesen passieren viele Dinge „hinter den Kulissen“.

Und da sind wir nur im Bereich der Girokonten und des täglichen Bedarfs. Altersvorsorge, Spekulationen, der Vergleich unterschiedlicher Sparmöglichkeiten oder auch Anlageoptionen sind hier noch gar nicht einbezogen. Hinzu kommen regelmäßige Werbungen, die FOMO auslösen sollen und zum Wechseln einladen (aber die Kosten stehen dann im Kleingedruckten).

Neurodivergente Menschen bleiben Banken treu, wenn sie sich willkommen fühlen. Dafür müssten Banken ihre Angebote aber neu denken.

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