Was lässt sich von Lemonade lernen?

lime juice on drinking glass beside sliced limes

Vor knapp einem Jahr wurde Allianz-Chef Oliver Bäte vielfach mit dem Satz zitiert, dass „kein Insurtech die Branche revolutioniert“ habe, aber viel von Lemonade gelernt wurde. Was könnte das sein? Wir nähern uns mal kritisch dem Player an.

Tatsächlich disruptiv?

Es gehört zum Markenkern und ist auch zentraler Teil der Kommunikationsstrategie von Lemonade, sich als Disruptor der Versicherungswirtschaft zu positionieren. Durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz und einer vollständig digitalisierten Plattform sollen so traditionelle Versicherer in den Schatten gestellt werden.

Eine ehrgeizige Vision. Die Realität sieht allerdings etwas anders aus. Denn tatsächlich arbeitet Lemonade mit etablierten Versicherern zusammen, um die von ihnen angebotene Deckung zu vermitteln. Die Front-End-Plattform mag mehr oder weniger disruptiv und neu wirken, aber den Großteil seiner Versicherungspolicen bezieht Lemonade von traditionellen Partnern.

Überschaubares Produktangebot

Lemonade verkündet auf seiner Webseite, dass es die „Police 2.0“ entwickelt. Die sollen die Kund:innen verstehen. Das klingt natürlich toll, zumal ja die Versicherungswirtschaft selbst in Hinblick auf Verständlichkeit nicht den besten Ruf hat.

Die teilweise komplizierten Schachtelsätze in den Bedingungen einer Versicherung schaffen indes auch Klarheit, nämlich darüber, was denn eigentlich versichert ist. Und welche Ausschlüsse es gibt. Je simpler das nun formuliert ist, umso größer ist die Gefahr, dass die Kundschaft zwar meint, dass sie einen Schutz genießt, es tatsächlich aber nicht der Fall ist.

Wie in anderen Zusammenhängen an dieser Stelle auch schon einmal erklärt: Lemonade bietet Versicherungsschutz primär für Hausrat und Privathaftpflicht an. In den USA kommt (mit der Übernahme von Metromile) auch noch Kfz hinzu.

Das sind allerdings keine besonders komplexen Produkte, noch solche, die hohe Deckungsbeiträge abwerfen, weil sie sich ohnehin in einem preissensitiven Umfeld bewegen.

Der Automatisierungsgrad in diesen Bereichen ist hoch. Und war es auch schon, bevor Lemonade überhaupt aufgetreten ist. Es ist dem Insurtech nur als Erstes gelungen, dies als Vorteile für die Kund:innen herauszustellen.

Aber nüchtern betrachtet: Nach über 600 Mio. Dollar an Fundings ist Lemonade beim Produktportfolio nicht sonderlich vorangekommen.

Ein Blick auf die Zahlen

Gelobt sei das in Deutschland etablierte Zentralregister für Geschäftsberichte. Hier müssen wir Journalisten uns maximal durch die verschiedenen Beteiligungsstrukturen wühlen, bevor wir an den Kern der Daten gelangen. Das ist im Falle von Lemonade deutlich komplizierter und erfordert ein intensives Studium der verschiedenen Meldungen und Berichte im Bereich „Investor Relations“. Interpoliert stellt sich (Irrtümer gerne melden) Lemonade so dar:

  • Versicherte zu Ende Q1/2023: 1,85 Mio. Das Wachstum hat sich aber in den vergangenen zwei Quartalen deutlich abgeschwächt.
  • Marketingkosten: Mit Ausnahme der vergangenen zwei Quartale hat Lemonade vierteljährlich rund 30 Mio. Dollar für Marketing ausgegeben. Eine große Ausnahme war das dritte Quartal des vergangenen Jahres, als Metromile übernommen wurde.
  • Combined Ratio: Die ist streng genommen ein Albtraum, denn für jeden Dollar, der als Prämie eingenommen wurde, hat Lemonade 1,40 Dollar ausgegeben. Und dies, ohne nun explosionsartig zu wachsen oder gar den Markt zu dominieren.

Lemonade ist ein Meister des Buzzword-Bingo

Was sich auf jeden Fall von Lemonade lernen lässt, ist die sprachliche Optimierung von Sachverhalten im Sinne des Marketings.

Ex-Kund:innen sind „Alumni“

Lemonade kommt beim Kundenwachstum insgesamt nicht so schnell wie gedacht voran, weil das Zahlenwerk eine Abwanderungsquote um die 30 Prozent nahelegen. Jetzt lassen wir an dieser Stelle eine Untersuchung der Gründe bleiben. Aber: Lemonade verliert nach eigener Aussage keine Kund:innen. Diese werden zu Alumni! Das ist natürlich ein wunderbarer Kunstgriff. Die Kund:innen sind zwar eigentlich weg, aber auf unbekannte Weise doch noch da. Warum ist da noch keine Bank drauf gekommen? Tausende Deutsche-Bank-Alumni, Commerzbank-Alumni – eine blühende Community von Ex-Kund:innen. Aus denen müsste man dann nur noch etwas machen.

© www.insurancethoughtleadership.com

Das bestechende Bild der Pizza

Auf der Website von Lemonade ist unübersehbar die Abbildung einer Pizza zu sehen. Das Insurtech verspricht, die Gelder der Kund:innen so zu verwalten, als gehörten diese immer noch den Versicherten. Es werde nur ein „fixer Anteil“ abgezogen, um den Laden am Laufen zu halten. Und wenn nach Regulierung der Schäden etwas übrig bleibt, dann wird dies für wohltägige Zwecke gespendet. Angesichts der aktuellen Zahlen verwundert es wohl niemanden, dass für wohltägige Zwecke nur ein paar Krumen übrig bleiben.

Bei einem gravierenden versicherungstechnischen Verlust bleiben für den „guten Zweck“ leider nur Krümel übrig.

KI macht ja bekanntlich alles besser. Und wer viel von KI schreibt, der ist weit vorn. Und so spielt KI beim Policieren und der Abwicklung von Schäden bei Lemonade eine gewichtige Rolle. Nur leider finden sich keinerlei Aussagen darüber, wie Lemonade eigentlich der ethischen Fragen beim Einsatz von KI und Automatisierung genau löst. Nachdem man erst voller Stolz twitterte, dass die KI auch Schadensmeldungen einfach abgewiesen hat, was dann einen wahren Shitstorm auslöste, ruderte das Unternehmen zurück. Die KI würde nicht allein entscheiden und schon gar nicht auf Basis von Gesichtspunkten wie Aussehen oder ethnischer Herkunft.

Hut ab! „Synthetische Agenten“ – darauf muss erst jemand kommen

Den Hut muss aber nun wirklich jeder Marketingverantwortliche vor dem Meisterstück ziehen, den Lemonade vor zwei Wochen ablieferte. Da ein reguläres Funding ja einerseits immer die Frage nach dem „Warum“ auslöst und die Besitzverhältnisse verändert, suchte und fand das Insurtech einen Ausweg. „Synthetische Agenten“ werden jetzt eingesetzt, um die Akquisitionskosten für Neukund:innen zu finanzieren. Und zwar 80 Prozent dieser Kosten. Dafür erhält der glückliche Geldgeber dann 16 Prozent aus den Beitragszahlungen der Kund:innen, die mit seinem Geld gewonnen wurden. 150 Mio. Dollar zahlt der erste „synthetische Agent“, das Unternehmen General Catalyst, dafür.

Vermutlich meinte der Allianz-Chef in erster Linie das perfekte Marketing von Lemonade, das andere Versicherer und Insurtechs inspirieren könnte. Denn rein zahlenbasiert ist da noch nicht arg so viele passiert. Ein digitales Frontend für traditionelle Produkte. Das hat in den USA zwar für reichlich Wirbel gesorgt. Nur ist der deutsche Markt viel anstrengender.

Ärgerlich ist und bleibt nur, dass Lemonade so viel mediale Aufmerksamkeit bekommt, dass damit kleinere Insurtechs (hierzulande und anderswo), die solide Arbeit leisten, eher selten erwähnt werden.

Autor

  • Stephan ist seit Anfang der 90er Jahre online und hat eine ausgeprägte Fintech-Vergangenheit (Star Finanz, Hypoport). Bei der Hypoport-Tochter Dr. Klein war er u.a. für das Produktmanagement und den Bereich Business Development verantwortlich. Seit über 10 Jahren schreibt er über ausschließlich über Tech, Retail, E-Commerce und Insurance.

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