Unsere Scheinriesen: Was sind eigentlich Kund:innen?

Wann ist ein Startup erfolgreich? Na klar, wenn es wächst! Und da sind die Kundenzahlen ein wichtiger Indikator. Wäre da nicht die ewige Schönrederei – die nervt nur noch.

Was sind eigentlich Kund:innen? Die Antwort auf die Frage scheint schwierig, je nachdem, welche Branche betrachtet wird. Und die Definition so manches Unternehmens ist dann doch auch verblüffend.

Der Fetisch Kundenzahl

Der Supermarkt um die Ecke hat es leicht: Die Frage, wie viele Kunden der Laden hat, werden die Inhaber:innen vermutlich mit den Zahlen aus dem Kassenabschluss beantworten. Diese Personen haben schließlich etwas gekauft. 

Wäre ein Supermarkt aber ein Startup aus Fintech und Insurtech läge die Antwort nach der Zahl der Kund:innen nicht so auf der Hand.

Denn dann würde sich die fünfköpfige Familie, die einmal eine Tüte Brötchen gekauft hat, vermutlich in fünf Kund:innen verwandeln.

Als Beobachter der Branche bieten uns die PR-Meldungen von Startups eine bunte Vielfalt von Zahlen und Definitionen:

  • Kund:innen (wobei Kundin eben nicht Kundin bedeuten muss, wie wir gleich noch sehen),
  • Nutzer:innen: Kommt eine App oder eine Software ins Spiel, taucht fast zwangsläufig der „User“ auf.
  • Konten: Ist bei manchen Neobanken beliebt.
  • Trades: Ja, auch das gibt es schon mal als Beweis für den Erfolg eines „Neo“-Brokers.

Okay, wer (noch) keine Umsätze schreibt, muss eben auf andere Kennzahlen ausweichen. Und spätestens seit Dotcom-Zeiten werden Umsätze ohnehin überbewertet, viel wichtiger sind nun mal Wachstum, Wachstum und nochmals Wachstum, gell?

Wenn Unternehmen Scheinriesen sind

Die Verdammnis des ewigen Wachstums verführt allerdings schnell dazu, die Definition, was denn jetzt Kund:innen sind, sagen wir mal, großzügig auszulegen. 

Vermutlich erinnern sich die meisten noch an die Insolvenz von Nuri vor rund einem Jahr. Als das Fintech den bitteren Gang zum Gericht antreten musste, lauteten die Schlagzeilen (auch bei uns), dass 500.000 Kund:innen um ihr Geld bangen müssten.

Denn genau diese 500.000 Kund:innen wurde den Medien auch regelmäßig serviert. Indes schauen Insolvenzverwalter:innen anders auf ein Unternehmen. Und so war die Überraschung doch groß, als nur wenige Tage später die Rede von lediglich noch 200.000 Kund:innen war. Eine Zahl, die dann weiter hinterfragt werden durfte, denn diese „Kund:innen“ hatten nun mitnichten auch eine Transaktion ausgeführt, sondern den Identifizierungsprozess durchlaufen.

Es muss nicht immer gleich das Insolvenzverfahren sein. Auch testierte Geschäftsberichte werfen immer mal wieder Fragen auf. Anfang 2019 war N26 gegenüber der Presse schon bei über 2 Mio. Kund:innen. Im offiziellen Geschäftsbericht, der dann aber erst ein gutes Jahr später vorlag, waren es dann 1 Mio. Was damit erklärt wurde, dass im Geschäftsbericht nur die Kund:innen gezählt würden, die ertragsrelevant seien. Aha.

Mach’s wie Lemonade: Zähl einfach alles!

Wer jetzt denkt, dass es wenigstens ein gemeinsames Verständnis dafür gibt, wann eine Person nicht mehr zu den Kund:innen zählt, der irrt. Ein Meisterstück und Aufreger liefert das Insurtech Lemonade.

Der reine Zahlenhaushalt legt die Vermutung nahe, dass um die 30 Prozent der Kund:innen wieder abwandern. Kund:innen zu verlieren, ist immer unschön, aber nun im Bereich der Versicherungen auch nicht ungewöhnlich, denn wer hat nicht schon einmal einen Anbieter gewechselt? Nur stört das natürlich eine durchgängige Erfolgsgeschichte.

Und so erklärte das Unternehmen ernsthaft in einem Investor-Call seine Ex-Kund:innen einfach zu „Alumni“. Dieser Trick, der allen Hütchenspieler:innen Ehre macht, lässt das Insurtech kosmetisch natürlich viel besser aussehen. Nur mit der Realität hat das dann wenig zu tun.

Liebe Startups, wir verstehen Euren Druck, noch dazu in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Aber wenn ihr uns die Zahl der Kund:innen mitteilt, dann bleibt bitte bei den PR-Mitteilungen auf dem Teppich. Das „R“ steht hier übrigens für „Relations“.

Pseudowahrheiten und nervige, eigenwillige Definitionen sind selten ein guter Beginn für eine tragfähige Beziehung. Und die Fakten kommen auf jeden Fall heraus.

Autor

  • Stephan ist seit Anfang der 90er Jahre online und hat eine ausgeprägte Fintech-Vergangenheit (Star Finanz, Hypoport). Bei der Hypoport-Tochter Dr. Klein war er u.a. für das Produktmanagement und den Bereich Business Development verantwortlich. Seit über 10 Jahren schreibt er über ausschließlich über Tech, Retail, E-Commerce und Insurance.

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