Insurtech: War’s das mit der Revolution?

person holding pink sticky notes

Und sie wartet und wartet. Die Versicherungsbranche auf ihre Disruption nämlich. Die wird nun seit Jahren verkündet, aber viel zu sehen und zu spüren ist davon nicht. War es das jetzt schon mit der Revolution der Insurtechs? 

Der zurückliegende Jahreswechsel war für viele Branchenmedien auch der Zeitpunkt, um auf die Entwicklung der Insurtechs in Deutschland, Österreich und der Schweiz zurückzublicken. Die Autoren betonten die großen Fundings im vergangenen Jahr, sprachen zugleich davon, dass der Markt „reifer“ geworden sei. Reif kann ja eine höfliche Umschreibung sein, dass etwas älter wird. In dem Zusammenhang kann es auch bedeuten, dass sich etwas auf die Vollendung hinbewegt; also wie Obst reift. Eine richtige Tendenz ließ sich aus den Artikeln nicht ablesen. Und damit Ende des kleinen küchentischphilosophischen Exkurses.

Auch ein Neo-Versicherer ist ja ein Versicherer

Wenn über Startups im Finanzbereich geschrieben wird, greifen wir Journalisten (und dankbar auch die PR-Abteilungen der Unternehmen) auf den Zusatz „Neo“ zurück. Neo-Bank, Neo-Versicherung: Das grenzt schön gegenüber den bereits arrivierten Unternehmen im gleichen Segment ab. Und der Zusatz signalisiert auch, dass die jungen Unternehmen etwas anders machen wollen. Doch am Ende sind Neo-Versicherer eben Versicherungsgesellschaften: mit den damit verbundenen Wünschen und Bedürfnisse der Kund:innen und den Erwartungen von Geldgebern und Aktionären in Hinblick auf die wirtschaftlichen Ergebnisse. 

Hierzulande streben Insurtechs erst einen Börsengang an: VC-Geber zeigen Geduld, obwohl die Geschäftsberichte der Neo-Versicherer rote Zahlen zeigen. Das Zutrauen auf die beginnende Disruption ist offenbar (noch) groß. In den USA ist der Markt in dieser Hinsicht schon weiter. Und der Blick auf die börsennotierten Insurtechs ist ernüchternd. 

Das in Deutschland immer wieder als Vorbild positionierte Lemonade hat im vergangenen Jahr 78 (!) Prozent seines Börsenwertes verloren. Die Marktkapitalisierung von über 2,3 Mrd. Dollar beeindruckt noch, aber liegt deutlich unter der Erstnotiz. Hippo, in einem ähnlichen Segment wie Lemonade unterwegs, verlor 77 Prozent seines Wertes. Krankenversicherer Oscar Health, das per App auch zu einem gesunden Leben führen will, ging im März an die Börse und musste seitdem 79 Prozent Wertverlust hinnehmen. 

Es scheint, als verlieren die US-Anleger langsam die Geduld über der ganzen Warterei auf Disruption und das Aufnehmen von Traktion in den Märkten. Das Phänomen mit der überschaubaren Traktion von Insurtechs und Neo-Versicherern findet sich auch im europäischen Ausland. Luko, das ja jetzt Coya übernimmt, hat im Dezember 2020 ein Funding in Höhe 50 Mio. Euro erhalten. Und feierte sich in seiner Pressemitteilung für 100.000 Kund:innen. In einem der größten Versicherungsmärkte Europas wohlgemerkt.

Keines dieser Insurtechs ist in Bereichen unterwegs, deren Risiken den Kund:innen erst langatmig erklärt werden müssten. Der Nutzen von Hausrat-, Wohngebäude- und Krankenversicherungen dürfte unbestritten sein. 

Gehen die ganzen digitalen Prozesse und Apps vielleicht an den Zielgruppen vorbei? Schließlich tun sich auch Root oder Metromile, um zwei andere Beispiele zu nennen, ebenfalls schwer, nennenswerte Marktanteile zu erobern. Und das im Segment der Kfz-Versicherung, die sich in den USA nach wie vor wie geschnitten Brot verkauft. Beide belohnen umsichtiges Fahren, arbeiten also im Bereich der Telematik. Die Kund:innen hätten also reguläre Vorteile gegenüber klassischen Anbietern.

Und wenn die Kund:innen die Technik nicht wollen?

Möglicherweise gibt es auch im Bereich Insurtech ein ähnliches Phänomen, mit dem bereits der klassische Handel zu kämpfen hat. In Malls, Einkaufszentren und Flagship-Stores haben die Retailer inzwischen jede Menge technisches Bling-Bling aufgestellt: Intelligente Spiegel und Fitting-Rooms, Tablets und Kiosk-Systeme und was auch immer es da noch geben mag. Doch die Kund:innen stimmen weiter mit den Füßen ab und wenden sich eher dem Online-Handel zu. Und dort wird ebenfalls längst nicht jede digitale Errungenschaft von der Kundschaft wohlwollend aufgenommen. 

Dass an der These etwas dran sein könnte, die Digitalisierung könnte an den Versicherten vorbeigehen, zeigt ein Beitrag des Beratungsunternehmens Adesso. „Die Bedürfnisse der Versicherten im Blick behalten“ heißt es dort. 

Ganz ohne Disruption: die eher stillen Helden

Während also VC und Aktienmärkte weiter warten, machen kleine und spezialisierte Insurtechs gute Geschäfte. Deren Geschäftsmodelle sind speziell und lassen sich auch in der Presse nicht so überzeugend verkaufen. Und völlig umkrempeln werden sie den Markt nicht. Das möchten sie gar nicht. Denn der Weg zur Marktdurchdringung, regulatorisch sauberen Prozessen und versicherungstechnisch rentablen Tarifen ist ihnen zu weit. Dafür verhelfen sie Versicherern dabei, ihre Prozesse effizienter und digitalisiert zu gestalten. Oder öffnen neue Touchpoints im Kontakt. 

Insurtechs wie Riskine (digitale Beratungslösungen) oder Jarowa (Marktplatz für Dienstleistungen rund um Immobilien) expandieren und überzeugen mit technischen Lösungen, nicht mit Fundings und disruptiven Ideen. Vielleicht gibt die Szene einfach das Warten auf die große Revolution auf?

Autor

  • Stephan ist seit Anfang der 90er Jahre online und hat eine ausgeprägte Fintech-Vergangenheit (Star Finanz, Hypoport). Bei der Hypoport-Tochter Dr. Klein war er u.a. für das Produktmanagement und den Bereich Business Development verantwortlich. Seit über 10 Jahren schreibt er über ausschließlich über Tech, Retail, E-Commerce und Insurance.

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