Roger Gothmann war unter anderem Steuerbeamter beim Bundeszentralamt für Steuern. Heute ist er Taxdoo-Chef und klagt die Missstände in der Steuerverwaltung an. Warum er das deutsche Steuerrecht für veraltet hält – und was er jetzt von Christian Lindner fordert.

Roger Gothmann begann seine Karriere als Finanzbeamter im gehobenen Dienst in Mecklenburg-Vorpommern, bevor er 2004 zum Bundeszentralamt für Steuern (Bzst) wechselte. Dort spezialisierte er sich auf die Bekämpfung grenzüberschreitender Umsatzsteuerbetrugsfälle. Nach seiner Promotion entschied er sich, in den Bereich E-Commerce zu wechseln. Im Rahmen des Exist-Programms der Universität Hamburg gründete er Taxdoo, mit dem Ziel, den Bereich der Umsatzsteuer im digitalen Handel zu vereinfachen. Seit einigen Jahren macht er sich stark gegen Steuerhinterziehung jeder Art und kämpft für eine stärkere Regulierung bestehender Software.

Herr Gothmann, wer durch Linkedin surft, kommt an Ihren Temu-Rants nicht vorbei. Was stört Sie so sehr an der Plattform? 

Mir ist es wichtig zu sagen: Meine Kritik richtet sich nicht primär an Temu. Temu ist eher ein Symbolbild, dafür, dass das aktuelle Steuerrecht nicht kompatibel mit aggressiven Geschäftsmodellen ist. Mir geht es darum, aufzuzeigen, dass die Finanzämter versagen, obwohl sie anders könnten: Sie fahren auf der einen Seite ausgefeilte Risikoanalysen bei Arbeitnehmern und auf der anderen lassen sie organisierte Steuerkriminalität im Großen geschehen. Dass Temu, Shein und andere Plattformen dem Fiskus auf der Nase herumtanzen ist kein Wunder, denn das aktuelle Umsatzsteuerrecht stammt aus dem Anfang der 1990er Jahre – da war E-Commerce in der heutigen Form noch nicht vorstellbar. 

Wie nutzen die Plattformen das aus?

Zum Beispiel ist bei grenzüberschreitenden Transaktionen die Umsatzsteuer oft gar nicht oder nur unvollständig abgeführt. Ein klassisches Beispiel: Pakete aus China werden oft mit viel zu niedrigen Werten deklariert, um unter die Zollfreigrenze zu fallen. Ein Fernseher wird dann beispielsweise als Diaprojektor im Wert von 100 Euro deklariert. Aber die Behörden können nicht jedes Paket überprüfen – das wäre logistisch und personell unmöglich. Zudem meldet Temu seine Umsätze über eine Niederlassung in Irland an und keiner in Deutschland prüft diese, obwohl Deutschland jedes Recht dazu hätte.

Warum prüft die keiner?  

Plattformen wie Temu operieren global, nutzen aber gezielt steuerliche Vorteile in bestimmten Ländern wie Irland. Temu muss unabhängig vom Sitz für Verkäufe an deutsche Verbraucher die Umsatzsteuer in Deutschland abführen. Um zu prüfen, ob die Plattform das korrekt erledigt, ist Deutschland auf die Kooperation der irischen Steuerbehörden angewiesen, um Zugang zu den Daten zu bekommen. Aber in der Praxis passiert das kaum, weil es zwar auf dem Papier aber nicht in der Praxis ein stnadardisiertes Verfahren für den Austausch dieser Informationen gibt. Zudem wären die deutschen Finanzbehörden derzeit nicht in der Lage, diese Datenmassen effizient auszuwerten. Das führt zu einer Situation, in der große Plattformen und ihre Steuerpflichten unter dem Radar fliegen, während kleinere und in Deutschland ansässige Unternehmen von Jahr zu Jahr stärker kontrolliert und reguliert werden. Das ist nicht nur unfair, das schadet dem Wettbewerb und unserem Wirtschaftsstandort.

Welche Folgen hat das für den deutschen Staat und seine Steuerbehörden?

Deutschland entgehen jedes Jahr Milliarden an Steuereinnahmen, weil diese Plattformen nicht richtig besteuert oder falsche Zollangaben gemacht werden. Stichproben reichen da nicht aus, und ohne einen funktionierenden und strukturierten Datenaustausch bleibt die Betrugsaufdeckung symptomatisch. Aus meiner Sicht fehlt es hier am Willen in der Politik. 

Was schlagen Sie kurzfristig vor? 

Wir brauchen Interoperabilität der IT-Lösungen für einen funktionierenden Datenaustausch, gerade mit Ländern, in denen Plattformen ihre Steuerpflichten deklarieren. Wir brauchen nicht noch mehr Bürokratie, wir brauchen keine neuen Gesetze oder Gesetzesverschärfungen. Wir müssen nur die bestehenden Gesetze auch wirklich durchsetzen. Seit 2019 haften elektronische Marktplätze in Deutschland theoretisch für die von ihren Händlern nicht abgeführte Umsatzsteuer. Aber in der Praxis gab es bisher nur einen einzigen Fall, in dem das tatsächlich durchgesetzt wurde – und dabei sprangen für den Staat gerade einmal 1.046 Euro und 50 Cent heraus. Dabei sprechen wir von einem potenziellen Steuerschaden in Milliardenhöhe. Hier muss der Vollzug verbessert werden. Die Finanzverwaltung muss technologisch und personell viel besser aufgestellt werden. Chinesische Plattformen sind unseren Finanzämtern da leider um Lichtjahre voraus.

Sie selbst haben da natürlich ein Interesse dran, weil sie mit Taxdoo rechtssichere Umsatzsteuer in Europa versprechen. Da nervt so ein Temu natürlich. Aber wer sagt, dass Ihre Software keinen Fehler macht? 

Wenn die Software einen Fehler macht, halten wir den Kopf dafür hin. Wir stecken viel Arbeit in diese Software und garantieren auch, dass diese funktioniert. Etwas anderes können wir uns gar nicht leisten. Denn sonst könnte kein Unternehmen auf uns vertrauen und deshalb setze ich mich auch für eine stärkere Kontrolle von TaxTech-Unternehmen, ähnlich wie bei Fintechs, ein. Denn ein Prüfungsverfahren würde schwarze Schafe in unserer Branche aussieben und Vertrauen für seriöse Anbieter schaffen. 

Sie wollen also eine strengere Regulierung? Die meisten Gründer würden Ihnen aufs Dach steigen.

Eine Regulierung mit deutscher DNA wäre definitiv zu viel, weil sie nicht selten über das Ziel hinausschießt. Mindeststandards und eine transparente Validierung aber unbedingt. Sehen Sie, Steuersoftware spielt eine immer größere Rolle bei digitalen Geschäftsmodellen, vor allem im E-Commerce. Unternehmen, die über Amazon, Shopify oder Onlyfans ihre Produkte verkaufen, sind auf diese Technologien angewiesen, um ihre internationalen Steuerpflichten zu erfüllen. Doch anders als Steuerberater, die strengen Vorschriften unterliegen, gibt es für diese Software-Anbieter kaum Regeln. Das bedeutet, dass Fehler in der Steuerberechnung oder -abführung oft unentdeckt bleiben und die Unternehmen im schlimmsten Fall haftbar gemacht werden. Wir brauchen dringend Mindeststandards, die sicherstellen, dass Steuersoftware korrekt arbeitet und dass die dahinterliegende Steuerlogik transparent ist. Das Bundesfinanzministerium könnte dafür eine unabhängige Plattform schaffen und alle Anbieter an einen Tisch bringen. Bislang hat Christian Lindner das aber nur mit ein paar Finfluencern wie beispielsweise Immo-Tommy gemacht.

Vielen Dank für das Gespräch. 

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