In unserer Reihe „Der Deutsche Fintech-Markt im Überblick“ werden wir näher beleuchten, welche Chancen das deutsche FinTech- und Digital-Finance-Ökosystem für ausländische Start-ups und Banken bietet. Der erste Teil der Serie behandelt die „Do’s und Don’ts“ in der B2B- und B2C-Kultur im deutschen FinTech-Markt. Bevor man sich mit Finanzlösungen in den Markt wagt, sollte man Kundenerwartungen sehr genau kennen. 

Warum nach Deutschland expandieren?

Deutschland ist eine der treibenden Kräfte der Europäischen Union und auf dem Weg, ein absoluter Hotspot für europäisches Gründertum zu werden. Die wirtschaftliche Stabilität, die Bereitschaft zur Nutzung digitaler Technologien nach der Pandemie, die Prognosen für das Wirtschaftswachstum und der ständige Zustrom ausländischer Talente sind starke Argumente, um den Schritt nach Deutschland zu wagen. Dennoch können ausufernde, bürokratische Anforderungen potenzielle Neuankömmlinge abschrecken.

Laut Destatis haben 22,3 Mio. der 83,2 Mio. Einwohner in Deutschland einen Migrationshintergrund. Jeder vierte Mensch trägt somit eine andere kulturelle DNA in sich. Diese große Gruppe von Menschen eröffnet ein breites Spektrum für Innovationen hinsichtlich Finanzdienstleistungen und bringt Chancen für ausländische Anbieter mit sich, die nicht zuletzt durch die Pläne der Ampel-Koalition unterstrichen werden. Künftig soll die Anwerbung qualifizierter ausländischer Arbeitskräfte erleichtert und Visabeschränkungen für Tech-Fachkräfte gelockert werden.

Ein Zustrom ausländischer Unternehmer und Unternehmen ist somit wahrscheinlich, zumal der deutsche Markt international hohes Ansehen genießt1. Hinzu kommt, dass Deutschlands Bedeutung für die europäische Finanzindustrie nach dem Brexit deutlich zugenommen hat und das Land eine wichtige Rolle für FinTechs und das Erreichen ihrer ambitionierten Wachstumsziele einnimmt.

In der diesjährigen Ausgabe der „Start-up Heatmap Europe“ wurde Berlin das zweite Jahr in Folge zur Nummer eins unter den Startup Hotspots gewählt, mehr als jeder dritte Gründer in Europa könnte sich vorstellen, sein Unternehmen in der deutschen Hauptstadt zu gründen.

Für ausländische Unternehmen ist es hilfreich, zunächst ein Verständnis für die lokalen Marktbesonderheiten und -erwartungen zu entwickeln. Die DNA deutscher Konsumenten und Unternehmen hält einige Besonderheiten bereit, die über Erfolg oder Misserfolg entscheiden können und auch für Start-ups gilt: Es gibt keine zweite Chance für den ersten Eindruck. 

Die Auswirkungen deutscher Konsumenten- und Arbeitskultur auf Finanzdienstleistungen  

Vertrauen, Vertrauen, und noch mehr Vertrauen

Die Aussage, dass Vertrauen in der deutschen Kultur essenziell sei, ist eine Untertreibung. Genau jenes Vertrauen aufzubauen, erfordert Zeit und Mühe. Die gute alte „Mundpropaganda“ ist ein ebenso wichtiges Werkzeug, wie lokale Gütesiegel und Zertifizierungen durch TÜV, Stiftung Warentest & Co. und weitere Referenzen. Unternehmen, Firmen und Marken genießen allein durch ihre Beständigkeit über großes Vertrauen bei den deutschen Konsumenten. Die gute Nachricht aber ist, wer einmal einen lokalen Kundenstamm aufgebaut hat, kann sich mit großer Wahrscheinlichkeit über treue Kunden freuen. 

Bargeld und der Datenschutz

In der Corona-Pandemie haben Barzahlungen selbst im Land des Bargelds an Bedeutung verloren. Dennoch ist es für einen großen Teil der deutschen Kunden (72 % im Jahr 2022, laut Statista) weiterhin selbstverständlich, bar zu bezahlen. Neben historischen Gründen und dem hartnäckigen Fortbestehen von „Cash only“-Händlern, liegt der Grund hierfür vor allem in den hohen Anforderungen an den Datenschutz. Gerade bei finanziellen Daten ist der deutsche Konsument sehr sensibel und vorsichtig. Das Fehlen eines angemessenen Datenschutzmechanismus (bzw. die fehlende Erklärung desselben) kann daher für viele Kunden folglich ein K.O.-Kriterium darstellen. FinTechs und Banken, die nach Deutschland expandieren, müssen hohe Standards einhalten und diese hinreichend erläutern. Dies betrifft beispielsweise die Frage, ob Daten mit ausländischen Unternehmen geteilt werden. Die richtige Antwort lautet selbstverständlich „nein“.

Die Deutschen und die Schulden

Wer für Neuanschaffung die Kreditlinie der Kreditkarte nutzt und die Schulden in regelmäßigen Raten samt Zinsen zurückzahlt, ist vermutlich kein deutscher Konsument. Was in vielen Teilen der Welt völlig normal ist, stellt in Deutschland eher die Ausnahme dar. Hierzulande werden Kreditkartenschulden spätestens mit der kommenden Monatsrechnung vollständig und zinslos beglichen oder gar nicht erst erzeugt, weil vorsorglich ausreichend Guthaben auf das Kreditkartenkonto eingezahlt wurde.

Die Aufnahme von Krediten ist in vielen Kulturen fester Bestandteil des Lebensweges. In den USA geborene KollegInnen verbringen ihre 30er und 40er Jahre (im Bestfall) mit der Rückzahlung von Studentenkrediten und Expats tauschen sich angeregt zu den wachsenden Möglichkeiten durch „Buy now pay later“ aus.

In Deutschland ist die Einstellung zur Fremdfinanzierung eine andere, denn – wie das deutsche Wort „Schulden“ bereits nahelegt – wer fremdes Geld benötigt, hat vermutlich bereits etwas falsch gemacht. Schulden sind verpönt und so wird auf die nächste Anschaffung bevorzugt gespart, sofern der Konsumwunsch nicht zu groß ist. Dann wird bevorzugt zum Ratenkredit gegriffen.

Die ersten FinTech-Lösungen für Kreditprodukte hatten anfänglich mit geringer Akzeptanz zu kämpfen (z.B. P2P-Plattformen). Selbst bei Immobilienfinanzierungen ist mit vergleichsweise geringer Nachfrage zu rechnen, denn die Wohneigentumsquote in Deutschland ist niedrig und steigende Zinsen dürften den jahrelangen Immobilienboom bremsen. 

Sparen und Anlegen

Die deutschen Verbraucher mögen zwar mehrheitlich risikoscheu sein, aber ihr Investitionsverhalten ist in der Zeit nach der Pandemie definitiv größer geworden. Traditionell waren risikoarme Produkte wie Fest- und Tagesgeld die beliebtesten Anlageprodukte in Deutschland. Die Trends zur digitalen Vermögensverwaltung nach der Pandemie, die bis zuletzt anhaltend niedrigen Zinsen und das Bedürfnis nach Inflationsabsicherung scheinen jedoch das Interesse an WealthTechs und deren Lösungen geweckt zu haben. So zählte der deutsche Neobroker Trade Republic im April 2020 150.000 Nutzer, die zu mehr als einem Drittel aus Erstanlegern bestanden. Inzwischen hat der mobile Broker mehr als eine Million Nutzer. 

Ein weiteres Beispiel unterstreicht das Interesse an alternativen Anlagemethoden: Laut Geminis „2022 – Global State of Crypto“-Report besitzen 17% der Deutschen Kryptowährungen, und 53% der Deutschen sind „krypto-neugierig“. Dies mag im ersten Moment nicht besonders eindrucksvoll klingen, allerdings kommen Zahlungen mit dem Smartphone lediglich auf eine Akzeptanz2 von 18%.

Vernünftige Verbraucher

Deutsche Kunden sind vergleichsweise vernunftgetrieben. Vor Neuanschaffungen und -abschlüssen wird ausgiebig recherchiert und Angebote verglichen. FinServ-Neulinge müssen ihren FAQs, dem Kundenservice und der kundenorientierten Dokumentation besondere Aufmerksamkeit schenken. Auch die vereinfachte Erläuterung Ihrer Dienstleistungen und Alleinstellungsmerkmale auf Vergleichsportalen könnte Ihrem Unternehmen einen Schub geben.

Sachlichkeit vor „Bling-Bling“

Deutsche Verbraucher neigen tendenziell zur Bescheidenheit. Sie sind praktisch veranlagt, so dass statusorientierte Produkte und Dienstleistungen nur für kleinere Gruppen wie die HNWI relevant sind. Qualität ist wichtig und bevor in eine Vielzahl an Funktionen oder Dienstleistungen investiert wird, sollte sichergestellt werden, dass hierfür Kundeninteresse besteht und idealerweise eine Zahlungsbereitschaft. Auch Langlebigkeit und wirtschaftliche Vorteile (Schnäppchen) können Produkten und Dienstleistungen einen zusätzlichen Wettbewerbsvorteil verschaffen.

Innovation kommt an zweiter Stelle

Auch für Finanzinstitute und Unternehmen ist die Einhaltung von Vorschriften oftmals wichtiger als Innovation. Da Unternehmen und Banken größten Wert darauflegen, dass ihre Lizenzen und Genehmigungen bestehen und ihr Ruf intakt bleiben, achten sie sehr darauf, dass Newcomer, mit denen sie kooperieren, den Compliance-Test mit Bravour bestehen.

Ebenso ist die Benutzerfreundlichkeit ein wichtiger Aspekt: Laut einer Umfrage des Bundesverbandes deutscher Banken vom Februar 2022 sind 78 % der Verbraucher Benutzerfreundlichkeit von Banking-Apps wichtiger als ein großes Angebot an Funktionen und Dienstleistungen. Die Botschaft ist klar: Mache eine Sache, aber mache sie richtig und gesetzeskonform.

Akribische Arbeitskultur

Die Arbeitskultur in deutschen B2B-, B2C- sowie B2G-Kundensegmenten ist durch einen hohen Grad an Sorgfalt und Stabilität geprägt. Neulinge müssen ihren (etablierten) Geschäftspartnern Zeit geben, sich mit neuen Verfahren und Prozessen auseinanderzusetzen. Wer Änderungen am Status quo erwirken möchte, benötigt gute Argumente und Geduld. Im Zweifelsfall erhält Kontinuität den Vorzug vor Erprobungen. Außerdem können einige Prozesse langsamer ablaufen als auf dem bisherigen Heimatmarkt. Es hilft, sich auf den Aufbau langfristiger Beziehungen, Vertrauen sowie sorgfältiger Prozesse zu konzentrieren.

Die Frage, warum man sein bestehendes, erfolgreiches Produkt nicht einfach im deutschen Markt testen sollte, ohne wertvolle Zeit zu verlieren, erscheint zwar naheliegend. Angesichts der beschriebenen Besonderheiten wird allerdings schnell klar, dass die Wahrscheinlichkeit, mit diesem Ansatz zu scheitern, sehr hoch ist. Das eigene Produkt auf die Gegebenheiten des deutschen Marktes zuzuschneiden, ist essenziell, auch weil deutsche Konsumenten hiesigen Anbietern eher den Vorzug geben. Die Anstrengung lohnt sich jedoch, denn wer es schafft, im deutschen Markt erfolgreich zu sein und über behördliche Zulassung verfügt, hat gleichzeitig beste Voraussetzungen, um in weitere europäische Märkte zu expandieren.

1 Deutschland belegt laut US News & World Report, BAV Group, VMLY&R und The Wharton School of the University of Pennsylvania (2021) global Rang 2 hinsichtlich Unternehmergeist und Rang 6 der Start-up freundlichsten Länder laut ceoworld.biz (2021).

2 Bankenverband, Mobile Banking und Mobiles Bezahlen 2022

Sie sind ein FinTech oder eine Bank, die nach Deutschland expandiert, und möchten mehr über die Faktoren für einen erfolgreichen Markteintritt in Deutschland erfahren? Dann verpassen Sie nicht den zweiten Teil unserer Serie, der im nächsten Monat erscheint und sich mit häufigen Fehlern befassen wird.

Über die Autorin

S. Elif Kocaoglu-Ulbrich ist Gründerin und Geschäftsführerin von Contextual Solutions, einer 360-Grad-Strategieberatung mit Sitz in Berlin, die sich hauptsächlich an FinTechs richtet. Zuvor war Elif bereits mehr als 14 Jahre in der Finanzindustrie tätig, u.a. für internationale Anwaltskanzleien, Denizbank, FinLeap, Cringle und Lendico.

Als selbstständige Beraterin unterstützt sie zusammen mit ihrem Team internationaler Experten Startups und Banken bei der Evaluierung und Entwicklung von Ideen, Geschäftsmodellen sowie Monetarisierungsoptionen, der Erstellung von Strategien und Produkten sowie der Erschließung neuer Märkte und Geschäftsfelder. Elif ist außerdem Autorin (Fintech Circle) und Bloggerin (Fintech Istanbul, Blockchain Turkey, Fintechna, LHoFT).

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